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Möglichkeiten angewandter Gesprächsforschung: Mündliche Prüfungen an der Hochschule


Dorothee Meer (Ruhr-Universität Bochum)












 
 

1. Einleitung


Sowohl die schlechten Arbeitsmarktaussichten für gesellschaftswissenschaftliche und philologische Fächer als auch der hiermit verbundene Legitimationsdruck dieser Fächer in der Öffentlichkeit hat den Blick immer stärker auf Ansätze gelenkt, die ihre wissenschaftlichen Überlegungen zum Ausgangspunkt (berufs-)praktischer Konzepte machen. In diesem Zusammenhang haben unter dem Label "angewandte Gesprächsforschung" Konzepte aus dem Bereich der linguistischen Pragmatik von sich Reden gemacht, die authentische Gespräche nicht nur zum Gegenstand ihrer Überlegungen machen, sondern die analytische Erfassung solcher Gespräche mit dem Anspruch verbinden, konkrete anwendungsorientierte Empfehlungen zu entwickeln, die auf die reale kommunikative Praxis zurückwirken (siehe hierzu Brünner e.a. 1999).

Ohne an dieser Stelle auf die teils nicht unerheblichen methodischen und konzeptionellen Unterschiede dieser Ansätze untereinander eingehen zu wollen, soll im Folgenden anhand der Untersuchung von aufgezeichneten und transkribierten authentischen, d.h. nicht zum Zweck der Aufnahme oder des Trainings simulierten mündlichen Prüfungen an der Hochschule verdeutlicht werden, welche prinzipiellen Potenziale mit Ansätzen der anwendungsorientierten Gesprächsforschung verbunden sind.
 
 
 

2. Mündliche Prüfungen in der Hochschule


Die methodische Spezifik des konkret vorgestellten Ansatzes besteht darin, dass gesprächsanalytische Kategorien mit institutionstheoretischen Überlegungen im Anschluss an den französischen Philosophen und Diskursanalytiker Michel Foucault kombiniert werden. Hieran anschließend versteht sich das dargestellte Vorgehen als diskurstheoretisch und gesprächsanalytisch. Dabei ist von Bedeutung, dass der Begriff des "Diskurses" nicht in einem interaktionistischen Sinne als Synonym zum Terminus "Gespräch" genutzt wird. Vielmehr werden unter dem Begriff des Diskurses im Anschluss an Foucault sehr heterogene sprachliche Elemente verstanden, die nicht unbedingt unmittelbar auf beobachtbare Kommunikationsverläufe anwendbar sein müssen (siehe hierzu Auer 1999: 232). Vielmehr reagiert die Kategorie des "Diskurses" in diesem Sinn zunächst einmal theoretisch-konzeptionell auf die Beobachtung, dass sich innerhalb hochspezialisierter Wissens- und Praxisbereiche moderner Gesellschaften jeweils spezifische kommunikative Praktiken entwickelt haben, die an konkrete, institutionell abgesicherte Machteffekte geknüpft sind (siehe dazu Foucault 1988). In diesem Sinn geht Foucault mit dem Begriff des Diskurses von spezifischen diskursiven Praktiken (etwa ökonomischen, juristischen, medizinischen oder therapeutischen Praktiken) aus, die empirisch in der Regel nur in Kombination miteinander auffindbar sind. In dieser Bedeutung soll im Weiteren auch der Begriff des "wissenschaftlichen Diskurses" benutzt werden, der sich bezogen auf die Realisierung mündlicher Prüfungen in mehrfacher Hinsicht als entscheidend erweist.

Empirisch bauen die folgenden Überlegungen auf ein Korpus von 20 universitären Prüfungsgesprächen aus den Fachbereichen Anglistik, Germanistik, Geschichte und "Deutsch als Zweitsprache" (DaZ) auf. Alle an diesen Prüfungen Beteiligten haben sich vor Beginn der Prüfung (schriftlich) mit der Anfertigung der Tonbandmitschnitte und der Veröffentlichung der anonymisierten Fassung der Transkripte einverstanden erklärt.

Durch das Transkript erfasst wurden alle verbalen Äußerungen (einschließlich Überlappungen, Unterbrechungen, gefüllter Pausen und Hörrückmeldungen), paraverbale Daten (wie Pausen, auffällige Betonungen und Dehnungen) und nichtsprachliche Daten (wie Blätterrascheln, Stuhlrücken o.ä.), soweit sie anhand der Tonbandaufnahmen identifiziert werden konnten. Die Verschriftlichung erfolgte anhand einer standardsprachlichen Umschrift ohne Interpunktion. Lediglich eindeutige Frageintonation wurde mit einem "?" markiert. Auffälligkeiten dialektalen und/oder soziolektalen Ursprungs wurden dort berücksichtigt, wo sie sich deutlich im Lautwert einer Äußerung niederschlugen. Im Detail sind für die Lektüre der Transkripte folgende Anmerkungen von Bedeutung:

Ausgehend von diesen Vorbemerkungen sollen nun schrittweise zunächst theoretische und empirische Aspekte von mündlichen Prüfungen angesprochen werden (Abschnitte 2.1 bis 2.3), bevor im Anschluss hieran anwendungsorientierte Perspektiven diskutiert werden (Abschnitte 3 und 4).
 
 
 

2.1 Kommunikative Hierarchie als Formen der Disziplinierung


Schaut man sich die Sekundärliteratur zu institutioneller Kommunikation insgesamt und zu Prüfungsgesprächen im Speziellen an, so findet sich immer wieder der Hinweis, dass institutionelle Kommunikation als asymmetrisch und hierarchisch strukturiert charakterisiert werden muss. Hierunter wird verstanden, dass sich die Rechte und Möglichkeiten der Beteiligten innerhalb der konkreten Gesprächssituation aufgrund ihrer kommunikativen Einflussmöglichkeiten unterscheiden. Und obgleich die Annahme von bestehenden Gesprächshierarchien bezogen auf mündliche Prüfungen unmittelbar einleuchtet, erweist sich die Frage nach dem Übergang von der Annahme institutioneller Hierarchien als institutionstheoretischer Kategorie zu konkret beobachtbarem sprachlichen Verhalten als kommunikationstheoretischer Kategorie als methodisch weitgehend ungeklärt (siehe dazu Meer 1998: 12-28).

So entspricht es einem in gesprächsanalytischen Arbeiten verbreiteten Vorgehen, im Zusammenhang mit hierarchisch gegliederten Gesprächssituationen in Form einer einfachen Analogie von der institutionellen Position der Gesprächsteilnehmer/innen auf ihr kommunikatives Verhalten zu schließen. Aus einer solchen Perspektive wird bezogen auf die Position der Hierarchiehöheren in vielen Fällen davon ausgegangen, dass es ihr Vorrecht sei, die Gesprächsthemen festzulegen, vorrangig gesprächssteuernd initiativ tätig zu sein, über die größeren Redeanteile zu verfügen und die Rechte der Hierarchieniedrigeren nicht beachten zu müssen. Das Verhalten der Rangniedrigen wird als komplementär hierzu beschrieben (siehe dazu Dederding/Naumann (1986), Holly (1979), Rolf (1994), Stary (1994), Steuble (1983), Wolf e.a. 1977).

Schaut man sich vor dem Hintergrund dieser Annahmen mündliche Prüfungen in der Hochschule an, eine unzweifelhaft hierarchisch gegliederte Kommunikationssituation, so wird sehr schnell deutlich, dass die geschilderten Analogieschlüsse nicht weit tragen. Dies soll zunächst anhand des folgenden Auszugs aus einer typischen mündlichen Magisterprüfung des Fachbereichs "Anglistik" schrittweise verdeutlicht werden. Es handelt sich um einen Auszug, in dem es um den Zusammenhang zwischen den Hauptfiguren in Shakespeares Dramen und dem Verlauf der Handlung geht:
 

  Kandidatin Prüfer
     
    [... gekürzt ...]
623   Shakespeares Tragödien (3) 
624   haben ja (1) so etwas (0) 
625   wie einen (1) ja (0) norma-
626   len oder normativen Nu-
627 ja cleus also (... Princess
628   (1) eine Person deren Ver-
629   halten die ganze Gesell-
630   schaft in Mitleidenschaft 
631   zieht (0) kommt zu Fall
632 ja das is also in Zusammen- (...)
633 hang zu sehen mit dem soge-  
634 nannten wheel of fortune dass   
635. also [... gekürzt ...]  

Auffällig am vorliegenden Wechsel zwischen dem Turn des Lehrenden und der hieran anschließenden Reaktion der Prüfungskandidatin ist die Beobachtung, dass der Lehrende gar nicht dazu kommt, einen Arbeitsauftrag für die Kandidatin zu formulieren. Bereits seine Ausführungen in den Zeilen , die vermutlich zu einer Anschlussfrage überleiten sollten, reichen der Kandidatin aus, um eigene Überlegungen anzuschließen, die auf die bisherigen Erläuterungen ihres Prüfers reagieren. Dabei deutet die kurze simultane Passage in Zeile 632 darauf hin, dass der Ranghöhere zum Zeitpunkt der Turnübernahme nicht am Ende seiner Ausführungen war.

Auch die folgende, an den vorhergehende Turn der Kandidatin anschließende Sequenz verdeutlicht, dass gelungene mündliche Prüfungen u.a. durch Formen möglichst selbständigen und aktiven Verhaltens der statusniedrigeren Kandidat/inn/en gekennzeichnet sind. Den Ausgangspunkt hierfür bildet der folgende Turn des Lehrenden:
 

  Kandidatin Prüfer
     
  [... gekürzt ...]  
662    gibt also im Mittelalter und
663   wenn man sich die (0) (soge-
664   nannten) Tragödien bei Chau-
665   cer (0) anschaut (0) gibt es 
666   ja auch Fälle vom (2) Fälle 
667   de casibus virorum illustrium
668   wo die Betreffenden überhaupt
669   nichts gemacht haben außer 
670   dass sie eben oben waren Gott
671 hm und Fortuna hat sie einfach
672   aus Neid (1) zu Fall gebracht
673   gibt es das bei Shakespeare 
674   auch noch?
675 ehm (0) NEIN würd ich nicht  
676 sagen eh also selbst eh ehm Ham-  [leise:] mh |
677 let der ja ehm eigentlich ehm  
678 ja der der (0) Prototyp des tra-  
679 gischen Helden is der ja (0) wen-  [leise:] mh |
680 na jetzt nicht handelt und wenna   
681 handelt beide Male schuldig   
682 wird eh a seine Schwäche kann   
683 man vielleicht be/ bezeichnen   
684 als eh ja als eh sein seine   
685 Zöge/ seine ja dass dass er zö- hm
686 gert diese Aktion und dass er   
687 eben zu sehr ehm über seine   
688 Person selbst reflektiert   
689 und nicht handelnd tätig al-  
690 so nicht tätig wird (0) also   
691 ich würde sagen es is immer   
692 NOCH vorhanden obwohl es Ab-  
693 stufungen gibt auch Othello   
694 zum Beispiel eh is eigent- hm
695 lich schuldig wegen seiner   
696 Naivität und seiner Eifer-  
697 sucht während das dann bei   
698 Macbeth sch/ wieder ganz   
699 anders aussieht der ja durch   
700 seine durch seinen Ehrgeiz   
701 seine Ambitioniertheit eben   
702 schuldig wird und dann auch   
703 eben immer weiter absackt  [leise:] mh |
704 imma imma stärker in diesen   
705 Teufelskreis gerät  

Der Prüfer formuliert in diesem Auszug eine klassische Prüfungsfrage und wird damit, wie in der Sekundärliteratur hervorgehoben, initiativ-gesprächssteuernd tätig (siehe Dederding/Naumann 1986: 129- 141). Gleichzeitig verdeutlicht jedoch die Länge des Turns der Kandidatin sowie die ihre Ausführungen begleitenden, positiv bestätigenden Hörrückmeldungen des Lehrenden, dass das Rede(vor)recht der Prüfungskandidatin unstrittig ist. Vielmehr legen die Hörrückmeldungen des Prüfers nahe, dass dieser ihre weitgehend selbständigen Ausführungen eher erwartet als duldet.

Die in den beiden bisherigen Auszügen beobachtbare Selbständigkeit der Kandidatin wird noch deutlicher in ihrer Turnübernahme in der unmittelbar an den vorhergehenden Auszug anschließenden Sequenz:
 

  Kandidatin Prüfer
     
706   also (0) [leicht gedehnt:] die |
707   Stücke können ja auch 
708   da nicht alle (0) da nicht 
709   einem uniformen Schema unter-
710   liegen weil die GeSCHICHten 
711   die in ihnen erzählt werden 
712 hm (0) ja aus ganz verschie-
713 ja denen Zeitstufen (0) Kultu-
714 auch verschiedenen Tragödien- ren kommen (...) (1)
715 konzeptionen (0) (1) [gedehnt und betont:] JA-A|
716 also wir haben ja einmal die   
717 eh die Tragödie der der Lie-  
718 be ehm beim bei Othello zum  
719 Beispiel [... gekürzt ...]  

Hier zeigt sich in den Zeilen zunächst im Turn des Lehrenden, dass dieser die vorhergehenden Überlegungen der Kandidatin aufgreift, also auf diese reagiert. Insoweit kommt eine typische Form der indirekten Gesprächssteuerung von Kandidat/inn/en in den Blick, die mit ihren Ausführungen die Möglichkeit haben, denkbare Anschlussüberlegungen des Lehrenden vorzustrukturieren. Noch deutlicher werden die Aktivitäten der Rangniedrigeren im vorliegenden Auszug jedoch, als sie ihren Prüfer in den Zeilen mittels positiver Hörrückmeldungen und einer ihn ebenfalls positiv bestätigenden simultanen Passage unterbricht. Beide Aktivitäten sind zwar auch dazu geeignet, die Überlegungen des Ranghöheren inhaltlich zu bestätigen, entscheidender ist jedoch der hierin enthaltene Hinweis der Prüfungskandidatin, dass sie sich selbst in der Lage sieht, das vom Lehrenden dargelegt Wissen darzustellen. Dass dieser ihr diese Möglichkeit trotz der Unterbrechung bereitwillig überlässt, unterstreicht vor allem sein betont gesprochenes simultanes "JA-A" in Zeile 715.

Schaut man sich den bisher kommentierten Auszug nun insgesamt aus institutionstheoretischer Perspektive an, so muss man festhalten, dass im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit nicht der Ranghöhere steht, sondern es genau entgegengesetzt die rangniedrigere Studierende ist, die sich mit ihrem Wissen präsentiert. Dabei muss im Hinblick auf die Prüfungssituation davon ausgegangen werden, dass es weniger das Recht als die Pflicht der Kandidatin ist, ihr wissenschaftliches Wissen in den Mittelpunkt zu stellen und sich damit bewertbar zu machen, während es offensichtlich in den Aufgabenbereich des Lehrenden fällt, sich zurückzuhalten und die Prüfungskandidatin in den Mittelpunkt zu rücken und damit ihr Wissen und ihre Leistung sichtbar werden zu lassen.

Die hier beobachtbare Aktivitätsverteilung, die darin zu bestehen scheint, dass im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit diejenige steht, die es zu bewerten gilt, begreift Michel Foucault als typisch für die Wirkungen moderner Macht, die er u.a. als Form der "Disziplinierung" beschreibt. In diesem Zusammenhang stellt er heraus, dass sich die moderne Disziplinarmacht durchsetzt,

indem sie sich unsichtbar macht, während sie den von ihr Unterworfenen die Sichtbarkeit aufzwingt. In der Disziplin sind es die Untertanen, die gesehen werden müssen, die im Scheinwerferlicht stehen, damit der Zugriff der Macht gesichert bleibt. Es ist gerade das ununterbrochene Gesehenwerden, das ständige Gesehenwerdenkönnen, ... was das Disziplinarindividuum in seiner Unterwerfung festhält. (Foucault 1977: 241)
Dabei stellt er bezogen auf den Mechanismus des "Sichtbarmachens" bzw. der "Sichtbarwerdung" von Individuen fest, dass diese Form der (produktiven) Unterwerfung in vielen Fällen eine Folge des Mechanismus des "Sprechen-Machens" (Foucault 1983: 84) ist, einer keineswegs nur für Prüfungsgespräche relevanten Verpflichtung, sich kommunikativ darzustellen. Insoweit sind bezogen auf den diskutierten Auszug aus einer mündlichen Prüfung sowohl die relative Zurückhaltung des Ranghöheren als auch die teils unaufgeforderten Aktivitäten der Kandidatin dazu geeignet, sie anhand ihres wissenschaftlichen Wissens sichtbar und auf diesem Weg bewertbar zu machen.

Damit soll im nächsten Schritt auf die spezifische Bedeutung wissenschaftlichen Wissens für den kommunikativen Verlauf hochschulischer Prüfungsgespräche eingegangen werden.
 
 

2.2 Wissenschaftliches Wissen und Formen der Konfrontation

Um die Bedeutung wissenschaftlichen Wissens für den Ablauf mündlicher Prüfungen an der Hochschule genauer bestimmen zu können, soll zunächst der folgende Auszug aus einer in weiten Teilen kontrovers geführten mündlichen Prüfung genauer betrachtet werden. Konkret handelt es sich um einen Ausschnitt aus einer germanistischen Hauptfachprüfung, der Teil einer umfassenden Diskussion ist, in der es um die Einschätzung des Geschichtsbilds der Dramen Heiner Müllers geht. Konkret wird die Frage diskutiert, wie analytisch und an die vorhergehenden Ausführungen der Kandidatin anschließend wie "marxistisch" die Dramen Müllers sind:
 

    Prüfer  Kandidatin 
       [... gekürzt ...] 
0156  naja aber das ist ja nun ganz (0) undialektisch 
0157  oder ganz unmarxistisch (0) eh nich dass 
0158  kein Versatzstück einer konkreten Utopie 
0159  mehr sichtbar wird nein im Gegenteil dass 
0160  eh dass der Mensch in diesen Dramen eh 
0161  die Sie angegeben wird eh haben als 
0162  geschichtsUNfähig dargestellt wird 
0163  ja ich weiß nich ob der so also er hat sich 
0164  bisher immer nur als geschichtsunfähig 
0165  gezeigt (0) und Heiner Müller fragt nach den 
  0166   Ursachen aber schon die Frage nach den
  0167    Ursachen impliziert doch immer wieder 
  0168    Gedanken an die Möglichkeit an bestimmte 
  0169    Fähigkeiten (0) also es is ja nich nur so dass 
  0170   alles im Nachhinein platt gemacht wird 
  0171   sondern es ist ja doch schon für meine 
  0172   Begriffe der Impetus da (0) zurückzuguckn 
  0173    (0) WIEDERzuholn durchzuarbeiten (1) 
  0174   also 
  0175  naja aber Ursachen werden doch nich (0) be   
  0176  schrieben (0) nenn-n Sie mal eine Ursache (1)   
  0177  für (0) eh den (0) für das Scheitern von Utopie  
  0178  nich wenn ich also an dieses Lessing/ eh   
  0179  /stück denke dass eh is doch ums ums (0)   
  0180  banal zu sagen albern aber nicht eh   
  0181  argumentativ begründend 
  0181 
was was eh
doch schon also man kann (0) die gesamte
  0182  was fürne welche Ursache wird denn da in 
  0183  dem Stück angegeben für das Scheitern der 
  0184  Lessingschen Aufklärungsidee? 
  0185  also das Sch/ ich sehs so sowieso nich als 
  0186  Scheitern der Lessingschen Aufkärrungsidee 
  0187  [schnell:] aber das mach ich dann gleich | 
  0188    also zunächst ma wird die Geschichte (1) des 
  0189    (0) Preußentums quasi erzählt das heißt es 
  0190    beginnt (0) mit Friedrich Wilhelm (0) und 
  0191  Friedrich als Prinz (0) wo genau geschildert 
  0192  wird wie diese willkürliche Herrschaft im (0)
  0193    ja in der Maschinerie Preußens die der Unter-
  0194  staat/ der Untertanenstaat schlechthin is und
  0195    von Heiner Müller auch DEUTlich so darge-
  0196    stellt wird also da is schon der Anspruch von
  0197    Ursachen auf jeden Fall (0) wie sich das 
  0198    Stück für Stück immer weiter entwickelt und
  0199    wie dieser Friedrich der als Knabe zunächst 
  0200    noch durchaus SINNlich is und der eigentlich 
  0201    eher weibisch als typisch männlich damit 
  0202    typisch preußisch damit ty-pisch zukünftig 
  0203    ksniglich is wie DER Stück für Stück eigent-
  0204    lich dieser sinnlichen Seite beraubt wird und 
  0205    wirklich so erzogen wird dass ER das System
  0206    als Kopf immer wieder reproduzieren kann 
  0207  also diese GANze Geschichte auch Grundling 
  0208    zum Beispiel als Paradigma DES Intellektu-
  0209    ellen im Preußenstaat der WIRKlich (0) in 
  0210    den Suff geTRIEben wird der eh (0) vsllig 
  0211    lächerlich gemacht wird der angepinkelt wird 
  0212    hinterher von den Anwesenden (0) da wird 
  0213    also ganz deutlich teilweise mehr als sarKA-
  0214    stisch gezeicht wie diese VerPREUßung von 
  0215    Subjekten (0) sich (0) entwickelt hat
  0216  na abba das is doch klischeehaft eh angedeu-
0217    tet und [... gekürzt ...]
0228 

Dass es sich beim vorhergehende Auszug um eine innerhalb mündlicher Prüfungen immer häufiger beobachtbare Form der wissenschaftlichen Auseinandersetzung handelt, wird sowohl durch die dreifach auftretende "na(ja) aber"-Formulierung des Lehrenden als auch durch den argumentativen Gehalt seiner jeweils anschließenden Gesprächsschritte hervorgehoben, mit denen er den Ausführungen der Prüfungskandidatin widerspricht. Die Kandidatin wiederum stimmt seinen Gegenbehauptungen an keiner Stelle des vorliegenden Auszugs zu, sondern hält an ihren Überlegungen zu den Dramen Müllers fest, indem sie ihre Position durch den Widerspruch des Lehrenden angehalten zunehmend stärker ausdifferenziert. Im Vergleich zum vorhergehenden, nicht konfrontativen Transkriptauszug fällt bezogen auf die Position des Lehrenden auf, dass positiv bestätigende Hörrückmeldungen oder explizite inhaltliche Bestätigungen der Kandidatin fehlen. Insoweit deutet diese Beobachtung darauf hin, dass es sich um eine Form der wissenschaftlichen Argumentation handelt, die insoweit spezifisch ist für den wissenschaftlichen Diskurs, als es darum geht, auf dem Weg der Konfrontation wissenschaftliche Erkenntnisse zu erzielen.

Über diese diskursspezifischen Eigenschaften hinaus finden sich innerhalb des Auszugs jedoch deutliche Hinweise darauf, dass die Konfrontation durch positionsspezifische Unterschiede gekennzeichnet ist. Diese werden an dem einseitig organisierten Vorwurfs-Rechtfertigungs-Schema ebenso deutlich wie daran, dass sich nur auf Seiten des Lehrenden (in den Zeilen 175/176 und ) explizite Redeaufforderungen an die Kandidatin finden. Zusätzlich zeigt sich der höhere Rechtfertigungsdruck der Studierenden sowohl in Zeile 163 in ihrem einleitenden Unsicherheitssignal ("ja ich weiß nich ob der so"), als auch in ihrem Turnbeginn in den Zeilen , mit dem sie zwar darauf verweist, dass sie die implizite Annahme ihres Prüfers, die Lessingsche Aufklärungsidee sei gescheitert, nicht teilt, sich unter den Bedingungen ihrer Überprüfung jedoch trotzdem genötigt sieht, zunächst auf den eigentlichen Arbeitsauftrag ihres Prüfers zu reagieren ("also das Sch/ ich sehs so sowieso nich als Scheitern der Lessingschen Aufklärungsidee [schnell:] aber das mach ich dann gleich |").

Insoweit lässt sich zusammenfassend festhalten, dass der vorliegende Transkriptauszug einerseits durch die Dominanz des wissenschaftlichen Diskurses geprägt ist, der seinen Gegenstand unter anderem mit den Mitteln des Disputs bearbeitet. Darüber hinaus zeigt sich jedoch, dass die Möglichkeiten der Konfrontation unter den Bedingungen der mündlichen Prüfung deutlich positionsspezifisch unterschiedlich disziplinierende Tendenzen aufweisen. Bezogen auf die Kandidatin bestehen diese darin, ihre wissenschaftlichen Kompetenzen, und bezogen auf den vorhergehenden Auszug konkret, ihre Konfrontationsfähigkeit in den Mittelpunkt zu stellen, zu verdeutlichen und zu überprüfen.

Im Vorgriff auf die hochschuldidaktischen Anschlussüberlegungen ist es von entscheidender Bedeutung, dass konfrontative Formen der Überprüfung für Prüfungskandidat/inn/en mit besonders hohen Belastungen verbundenen sind. Da in diesen Prüfungspassagen sowohl explizite positive Bestätigungen der Ausführungen der Prüflinge als auch unterstützende Hörrückmeldungen weitgehend ausbleiben, ist es für die Kandidat/inn/en häufig nicht entscheidbar, ob der Widerspruch der Lehrenden einen Hinweis auf Defizite in ihren Ausführungen enthält oder genau umgekehrt eine Form der Anerkennung ihrer Disputfähigkeit darstellt. Die hochschuldidaktischen Konsequenzen dieser Feststellung werden weiter unten zu erörtern sein.

Damit sind bisher vorrangig die kommunikativen Folgen der Prüfungssituation bezogen auf die Kandidat/inn/en berücksichtigt worden. Weitgehend unbeachtet blieb hingegen die Frage, welche Auswirkungen die vorhergehenden Überlegungen auf das Verhalten von Prüfer/inne/n haben. Insoweit sollen nun im Folgenden die Verhaltensspielräume der Ranghöheren in mündlichen Prüfungen betrachtet werden.
 
 
 

2.3 Abhängigkeiten der Hierarchiehöheren: Konkurrenzen und Gegenabhängigkeiten


Einer der Angriffspunkte Michel Foucaults im Zusammenhang mit Erklärungsversuchen der Wirkungen von Macht und der Produktion von Hierarchien bildet die Annahme monokausaler, ausschließlich von "Oben" nach "Unten" gerichteter Funktionsweisen von Macht. Diese Vorstellung, die Machtwirkungen ausschließlich auf ein interaktives Schema von "doing being boss" beschränkt, setzt er ein polymorphes Konzept gestreuter Machtwirkungen entgegen, mit dem er u.a. davon ausgeht, dass Machtwirkungen als heterogener Funktionsmechanismus begriffen werden müssen. Dazu hält er fest:

Die Formel: "Sie haben Macht" mag politisch ihren Wert haben; zu einer historischen Analyse taugt sie nicht. Die Macht wird nicht besessen, sie wirkt auf der ganzen Dicke und auf der ganzen Oberfläche des sozialen Feldes gemäß einem System von Relais, Konnexionen, Transmissionen, Distributionen etc.. [...]

Die Macht ist niemals voll und ganz auf einer Seite. So wenig es einerseits die gibt, die die Macht "haben", gibt es andererseits die, die überhaupt keine haben. Die Beziehung zur Macht ist nicht im Schema Passivität-Aktivität enthalten. [...] Die Macht ist niemals monolithisch. Sie wird nie völlig von einem Gesichtspunkt aus kontrolliert. In jedem Augenblick spielt die Macht in kleinen singularen Teilen. (Foucault 1976: 114f.)
 
 

Bezogen auf die Situation in mündlichen Prüfungen heißt das u.a., dass es nicht nur darum gehen kann, die Bedingen der Möglichkeit studentischen Verhaltens zu bestimmen, sondern darüber hinaus auch die Verhaltensspielräume und Abhängigkeiten der hierarchiehöheren Prüfer/innen, um deren Möglichkeiten nicht als die einer "Position der Macht schlechthin" zu begreifen.

Betrachtet man vor diesem Hintergrund die weiter oben anhand von Prüfungsgesprächen beobachtete kommunikative Zurückhaltung und Unterordnung der Lehrenden unter die Selbstdarstellungsnotwendigkeit der Studierenden genauer, so zeigt sich bald, dass die Lehrenden nicht die Studierenden an sich unterstützen, sondern vielmehr deren wissenschaftliche Diskursfähigkeit. Dass es sich hierbei nicht vorrangig um eine interaktionell erklärbare Unterstützung konkreter Interaktionspartner/innen handelt, wird aus empirischer Perspektive immer dann deutlich, wenn dass wissenschaftliche Wissen von Prüfungskandidat/inn/en in mündlichen Prüfungen problematisch wird und es vor dem Hintergrund der Dominanz des wissenschaftlichen Diskurses damit zu Krisensituationen kommt. Dies soll zunächst anhand eines weiteren Transkriptauszugs verdeutlicht werden, der einer literaturwissenschaftlichen Magisterprüfung im Fach Germanistik entnommen ist. Es handelt sich um einen für diese Prüfung typischen Auszug, der aufgrund des weitgehenden Schweigens bzw. der sehr spärlichen Äußerungen der Kandidatin als deutlich problematisch bezeichnet werden muss. Konkret geht es um Heines Reiseliteratur und die Frage, was Heine ausgerechnet zur Wahl des Reisemotivs bewegt hat. Hierauf reagiert die Kandidatin mehrfach nur mit ? für eine mündliche Prüfung ? viel zu kurzen Turns bzw. mit Schweigen. Aus dieser Situation heraus kommt es zu folgendem Turnbeginn ihres Prüfers, mit dem er auf die von ihr nicht erläuterte Feststellung reagiert, dass Heine seine politischen Ideen reisend "einbringen" will:
 

  Prüfer Kandidatin
     
  [... gekürzt ...]
559 hm (0) welche sind das (0)   
560 [leise:] welche Ideen | (0)
561 [laut und heftig, teils lachend:]   
562 schuldigung dass ich Ihnen das
563 alles so aus der Nase ziehe   
564 nech | (1) also (0) ich woll->  
565 te eigentlich ja Mittagessen   
566 [Lachen] ne (0) [Lachen] (0) eh [Lachen]
567 was sind denn das für Ideen die   
568 er (O) die er versucht ehm (3)   
569 [sehr zögerlich:] zu Papier zu   
570 bringen (O) und WArum gerade   
571 eim Reisen (2) |[... gekürzt ...]  

Entscheidend für den vorliegenden Zusammenhang ist der (untypisch) explizite Hinweis des Lehrenden in den Zeilen ("schuldigung dass ich Ihnen das alles so aus der Nase ziehe nech"), dass die Krisensituation im ausbleibenden wissenschaftlichen Wissen der Studentin ihre Ursache hat. Dabei unterstreicht die Indirektheit seines Vorwurfs wie sein anschließender (heftig, wenn auch lachend gesprochener) Zusatz, dass er "eigentlich ja Mittagessen" wolle, seinen Ärger. Das anschließende Lachen beider Beteiligten, das in erheblichem Kontrast zur Heftigkeit der Äußerung des Prüfers steht, verdeutlicht die eher unangenehmen Wahrnehmungen der Beteiligten und stellt gleichzeitig einen Versuch dar, die Situation rein interaktionell (gemeinsames Lachen) zu "bereinigen". Damit wird jedoch gerade in der untypischen Heftigkeit und Ambivalenz der Reaktion des Lehrenden (Ärger vs. Lachen, Vorwurf vs. Indirektheit) deutlich, dass die Nichterfüllung wissenschaftlicher Ansprüche durch die Studentin offensichtlich nicht nur für sie selbst, sondern darüber hinaus auch für ihren Prüfer zum Problem wird.

An dieser Stelle kommt ein Faktor in den Blick, der bisher noch nicht berücksichtigt wurde: Die Mehrzahl mündlicher Prüfungen im Bereich der Hochschule findet statt unter den Bedingungen der Anwesenheit von (teils gleichrangigen, teils untergeordneten) Kolleg/inn/en, die als Vorsitzende und Protokollant/inn/en das Verhalten beider Hauptakteure beobachten. Dass diese Tatsache für das Verhalten von Prüfenden relevant ist, zeigt sich expliziter als innerhalb der mündlichen Prüfungen in Kommentaren der Ranghöheren, die sich im Anschluss an mündliche Prüfungen sowohl in Nachbesprechungen als auch in informellen Kontakten beobachten lassen. In Kommentaren wie "die war ja auch nie in meiner Veranstaltung", "ich versteh das nicht in meinen Seminaren war der immer sehr rege dabei" oder "das war ja wirklich hoffnungslos manche Leute wären woanders einfach besser aufgehoben" wird nach von Lehrenden als eher schlecht wahrgenommenen Prüfungsleistungen immer wieder deutlich, dass das wissenschaftliche Versagen der Studierenden die Prüfenden zumindest unter Erklärungsdruck setzt. Hierauf reagieren diese, indem sie möglichen Zweifeln hinsichtlich ihrer Fähigkeiten als Prüfer/innen dadurch entgegenwirken, dass sie jede Schuld für das Versagen der Prüfungskandidat/inn/en als außerhalb ihres Einflussbereichs liegend charakterisieren (siehe dazu Hoeth 1979).

Allerdings bestätigt sich die Annahme, dass Leistungsdefizite der Kandidat/inn/en auch für ihre Prüfer/innen handlungsrelevante Konsequenzen nach sich ziehen, nicht nur im Anschluss an mündliche Prüfungen, sondern auch innerhalb der Prüfungssituation immer dann, wenn Studierende über einen längeren Zeitraum nach Ansicht der Lehrenden wissenschaftlich unzureichende Ausführungen machen. In diesen Situationen geben die ranghöheren Lehrenden ihre kommunikative Zurückhaltung regelmäßig auf und fangen an, die Ausführungen, die sie eigentlich von den Studierenden erwarten, selbst zu übernehmen.

Dies zeigt sich auch im folgenden Beispiel einer fortgesetzten Krisensituation. Es handelt sich um einen Auszugs aus einer literaturwissenschaftlichen Germanistikprüfung, die durch die folgende Frage des Prüfers eingeleitet wird:
 
 

    Prüfer Kandidat
       
  0551 [... gekürzt ...]  
  0552 Sie haben angegeben Sie hätten auch mit  
  0553 Gottsched sich beschäftigt  
  0554   ja
  0555 wie nimmt der denn nun diese  
  0556 aristotelischen Konzepte eh auf?  
  0557   ja Gottsched ehm also orientiert sich also
  0558   eh an Begriffen Nachahmung und Wahrschein-
  0559 hm lichkeit (0) kann aber mit dem Begriff Katha-
  0560 hm sis wenig anfangen (0) also der fällt bei ihm
  0561   eh raus Gottsched eh geht es aber auch nich
  0562   um naturalistisches Konzept sondern eh eh er
  0563   bindet ehm zwei weitere Erfordernisse ein
  0564 hm die (0) eines Dramas (0) und das ist eben zum
  0565   einen eh eh dieses Prinzip was sowieso für
  0566   die Aufklärung also was für die Aufklärung
  0567   wichtig ist das ist also prodesse und
  0568 hm delectare (0) also dann im Prinzip Nutzen und Vergnü-
  0569   gen
  0570 ja wo macht er das fest? kommt also diese (...)
  0571 Horaz-Formel? (0) wo macht er das fest? eh ja
  0572 was ist denn sein zentraler Begriff also der  
  0573 Begriff der den aristotelischen Mythos (0)  
  0574 Mythos ist ja bei Aristoteles die Einheit  
  0575 der Handlung aus diesen drei Gliedern  
  0576 Anfang Mitte und Ende deren Einheit wird Mythos  
  0577 bestimmt was entspricht dem bei Gottsched hm
  0578 was ist da die zentrale Kategorie der
  0579

0580

Literatur noch vor der   
  0580 Gattungsdifferenzierung die gilt dann auch für (...) natürlich  
  0581   also Gottsched fängt an mit der mit der
  0582 die is aber Bestandteil einer größeren Sache moralischen Maxima (0) also
  0583 der FAbel  
  0584   aha
  0585 FAbel ist doch für Gottsched der zentrale  
  0586 Begriff also faktisch dass der Stellvertreter  
  0567 dieser Mythos-Kategorie und die Fabel  
  0588 verfällt worein? worin? in welche zwei Teile?  
  0589   also Fabel is is is für bei Gottsched gar nich
  0590 hm hm hm (0) also ich hab mich schon (0) intensiv mit
  0591 hm Dichtungstheorie also mich mit der Dramen-
  0592 hm theorie beschäftigt aber Fabel weiß ich nich 
  0593   also es gibt eh meines Wissens geht es bei
  0594   bei Gottsched um um den moralischen Lehrsatz 
  0595 hm um den Stoff und um die Gattung (0) und das
  0596   is im Prinzip sein sein Rezept der
  0597   poetologischen Produktion
  0598 ja aber die Fabel is ja genau die Einheit der  
  0599 Geschichte und der Maxime (1) und darauf aha
  0600 wird projeziert nun diese Horaz-Unter-  
  0601 scheidung von eh prodesse et delectare ach so
  0602 (0) die Geschichte soll ergötzen (0) sie muss hm hm
  0603 irgendwann mal salopp spannend  
  0604 inszeniert erzählt sein und der daraus zu ziehende Lehr-  
  0605 satz soll eben eh prodesse (0) oder auch eh hm
  0606 belehren und dergleichen ja (0) jetzt aber  
  0607 vielleicht auf diesen wichtigen Begriff  
  0608 ehm der Nachahmung eh worauf bezieht  
  0609 der sich oder welches Weltbild welche  
  0610 Wertvorstellungen stecken dahinter das  
  0611 hatten Sie schon angedeutet mit dem  
  0612 Begriff der Wahrscheinlichkeit ja was was  
  0613 wären denn weitere Begriffe was wäre der  
  0614 Gegenbegriff zu wahrscheinlich?  
      [... gekürzt ...]
       

Bereits bei der Turnübernahme des Lehrenden in Zeile 570 lässt sich vermuten, dass es sich um eine vorzeitige Unterbrechung des Kandidaten durch den Lehrenden handelt. Hierauf deutet nicht nur die kurze simultane Passage in dieser Zeile hin, sondern vor allem die unmittelbare Aufeinanderfolge von vier kurzen Nachfragen, von denen der Prüfer die letzte in der Zeile in Teilen selbst beantwortet, bevor er unmittelbar hieran anschließend zwei weitere Fragen formuliert. Dass es sich hierbei um deutliche Hinweise auf zunehmende Ungeduld handelt, unterstreicht er auch durch seine, den Turn abschließende erneute Reproduktion eigenen Wissens in den Zeilen 579/580.

Auch die beiden folgenden Turns bestätigen die Annahme zunehmender Ungeduld auf Seiten des Lehrenden. Im ersten Fall unterbricht er den Studierenden bereits unmittelbar zu Beginn dessen Turns in Zeile 582 um dessen Terminus "moralische Maxima" aufzugreifen und durch eine Erläuterung seinerseits weiterzuführen. Das hieran anschließende, (erstaunte) "aha" des Studierenden in Zeile 564 bewirkt, dass sein Prüfer in den Zeilen weitere Überlegungen ergänzt. Auch hier enthalten seine abschließenden drei kurzen Fragen deutlich Hinweise auf Ungeduld.

Dass dieses Verhalten auch vom Prüfling als Hinweis auf die wachsende Unzufriedenheit des Prüfers mit seinen Ausführungen zurückgeführt wird, bestätigt der Rangniedrigere mit seinem nächsten Turn insoweit, als er sich in den Zeilen explizit auf seine intensive Vorbereitung zu diesem Thema bezieht ("also ich hab mich schon (0) intensiv mit der Dichtungstheorie [... gekürzt ....] beschäftigt aber Fabel weiß ich nicht"). Spätestens in dem hieran anschließenden Turn des Prüfers, in dem dieser nun endgültig das Wissen darlegt, das er vom Prüfling erwartet hat, wird deutlich, dass er mit dem Wissen des Kandidaten unzufrieden ist.

Typisch ist dieser Transkriptauszug insoweit, als der Ausgangspunkt der Krise, der im unzureichenden Wissen des Studenten zu suchen ist, wie in der großen Mehrzahl solcher Fälle nicht explizit angesprochen wird. Statt dessen übernehmen die Lehrenden in diesen Situationen kontinuierlich die eigentlichen Aufgaben der Studierenden, indem sie das, was sie von den Rangniedrigen erwartet hätten, selbst reproduzieren. Was sich damit auch aus der Perspektive der kommunikativen Krise selbst bestätigt, ist, dass das Ansehen von Prüfer/inne/n in mündlichen Prüfungen nicht unabhängig von den Leistungen der rangniedrigeren Prüflinge betrachtet werden kann. D.h., dass Prüfende sich nur dann uneingeschränkt erfolgreich als gute Prüfer/innen präsentieren können, wenn sie ihre Fähigkeiten als Lehrende im Umweg über die Leistungen der Studierenden unter Beweis stellen.

Zur Erklärung der hier beobachtbaren Gegenabhängigkeiten der Ranghöheren von den Leistungen "ihrer Prüflinge" ist es von entscheidender Bedeutung, dass mündliche Prüfungen die einzige Situation im Alltag von Hochschullehrenden darstellen, in denen sie ihre Kompetenzen als Lehrende unter Beobachtung kollegialer Blicke belegen müssen. Aus der Perspektive der (an deutschen Hochschulen vorrangig) diskursiv produzierten Konkurrenzen unter Lehrenden ist die Botschaft an die anwesenden Kolleg/inn/en in diesen Situationen: "Was die Studierende da präsentiert, sind natürlich nicht meine Anforderungen. Das hat sie nicht bei mir gelernt."

Damit lässt sich bezogen auf die Spezifik von Krisenverläufen in mündlichen Prüfungen festhalten, dass die Ursachen solcher Krisen nahezu nie thematisiert werden. Leistungsdefizite der Prüflinge werden vorrangig indirekt durch die zunehmenden Redeanteile der Lehrenden markiert. Eine umfangreiche metakommunikative Bearbeitung solcher Defizite innerhalb der Prüfungssituation ist nahezu ausgeschlossen. Zwar finden sich innerhalb des Korpus auf Seiten der Lehrenden kurze metakommunikative Hinweise wie "nehmen Sie sich ruhig Zeit" oder "macht nix (0) fällt Ihnen sicher gleich wieder ein", aber sowohl die Kürze dieser Kommentare als auch ihr ausschließliches Auftreten in Krisensituationen deutet darauf hin, dass es sich um Notlösungen handelt. Dies zeigt sich auch daran, dass Krisen im (relativ seltenen) Fall eines vollständigen Blackouts einer Kandidatin/eines Kandidaten (in der Regel) zu eine Unterbrechung der Prüfungssituation führt, da eine Bearbeitung innerhalb des Prüfungsrahmens als nicht möglich wahrgenommen wird.

Die Gründe hierfür liegen rückblickend auf der Hand: Wenn mündlichen Prüfungen durch den wissenschaftlichen Diskurs und seine Regeln dominiert werden, und wenn innerhalb dieser Logik das Image des Lehrenden nur über die positive (wissenschaftsorientierte) Selbstdarstellung der Prüfungskandidat/inn/en erfolgen kann, dann können Lehrende Verletzungen diskursiver Anforderungen zwar ergänzend (quasi unter der Hand) markieren, durch einen offenen Angriff des/der Studierenden ("was reden Sie da eigentlich für einen Unfug" oder "was haben Sie eigentlich während Ihres Studiums gemacht?") würden jedoch die Ranghöheren ihrerseits die Anforderungen des Diskurses verletzen. Der Ort für derartige "unsachliche" Affektentladungen wird in den Bereich der Nachbesprechung und damit in einen Bereich "unter Ausschluss der Öffentlichkeit" verschoben.

Vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen bedeutet das für das Gelingen mündlicher Prüfungen, dass Krisensituationen innerhalb der Prüfung selbst zum Schutz beider Beteiligten möglichst vermieden werden müssen, weil eine einmal entstandene Krise nicht ohne Imageverletzungen behoben werden kann. Gleichzeitig bedeutet das jedoch gerade für die eher "betreuungsarmen" gesellschaftswissenschaftlichen Massenfächer der Gegenwart, dass eine sinnvolle Krisenprophylaxe nicht in der Prüfung selbst, sondern in deren Vorfeld ansetzen muss. Die sich hieraus ergebenden hochschuldidaktischen Anschlussüberlegungen sollen nun im Weiteren dargestellt werden.
 
 
 

3. Hochschuldidaktische Anschlussüberlegungen


Jenseits des konkreten Untersuchungsgegenstands stellt sich (spätestens) beim Übergang von der analytischen Erfassung eines kommunikativen Feldes hin zur Entwicklung anwendungsbezogener Perspektiven die Frage nach den normativen Grundlagen der eigenen Empfehlungen. Diese können nur dann erfolgreich sein, wenn klar ist, zu welchem Zweck die Empfehlungen von welcher Bezugsgruppe genutzt werden sollen (siehe dazu Fiehler 1999). Ohne die sich hier abzeichnenden grundsätzlichen methodischen Fragen an dieser Stelle diskutieren zu wollen, sind für die im Weiteren entwickelten Empfehlungen folgende Vorentscheidungen relevant:

Ausgehend von diesen Vorentscheidungen sind im Anschluss an die Ergebnisse der bisherigen Analyse für die Hinwendung zu hochschuldidaktischen Anschlussüberlegungen die Beobachtungen entscheidend, Bezogen auf die im Folgenden entwickelten handlungs- und praxisrelevante Empfehlungen bildet den hochschuldidaktisch entscheidenden Ansatzpunkt dabei die Annahme, dass Krisen in mündlichen Prüfungen aufgrund ihrer fehlenden Bearbeitbarkeit vor ihrem Auftreten vermieden werden müssen.
 
 
 

3.1 Vorbereitung mündlicher Prüfungen


Ausgehend von der genannten Notwendigkeit der Krisenvermeidung, müssen Kandidat/inn/en vor ihrer Prüfung wissen, was von ihnen fachlich und interaktionell erwartet wird. Hierfür bieten sich einige konkrete Ansatzpunkte zur Vorbereitung von Prüfungen im Allgemeinen und mündlichen Prüfungen im Speziellen an. Ziel einer solchen Vorbereitung sollte es sein, die weit verbreiteten, unrealistischen und unzutreffenden Annahmen von Studierenden über die Anforderungen in mündlichen Prüfungen durch konkrete Informationen hinsichtlich Umfang und Art des von ihnen Erwarteten zu ersetzen.

Konkret kann diese Vorbereitung von Prüfungskandidat/inn/en in folgender Form geschehen:

-Prüfungsanforderungen können in den Veranstaltungen des Hauptstudiums exemplarisch anhand des jeweils behandelten Themas erläutert werden. Das Ziel solcher Hinweise sollte nicht darin bestehen, konkrete Prüfungsthemen (im Sinne eines restriktiven Kanons) festzuschreiben. Vielmehr geht es darum, Studierenden anhand von konkreten Beispielen einen realistischen Eindruck vom Umfang und den Anforderungen in mündlichen Prüfungen zu vermitteln.

- Prüfende sollten gezielt prüfungsvorbereitende Examenskolloquien anbieten, in denen sie ausgehend von Transkripten mündlicher Prüfungen und Gesprächen mit den Studierenden ihre konkreten Erwartungen an Prüfungskandidat/inn/en explizit formulieren. Ziel wäre es, für Studierende deutlich werden zu lassen, was konkrete Prüfende als positiv, was als negativ bewerten, wie mit partiellen Wissensdefiziten in der Prüfungssituation umgegangen werden kann, welche Formen der Selbständigkeit erwartet werden und wo die Grenzen der Initiativen von Kandidat/inn/en gesehen werden.

- Prüfer/innen sollten sich explizit als Ansprechpartner/innen zur Verfügung stellen. Vor dem Hintergrund der weit verbreiteten (und institutionell durchaus mitverursachten) Angst von Studierenden vor den sogenannten "dummen Fragen" fällt es in den Aufgabenbereich der Lehrenden, diesem Phänomen durch zusätzliche Informationen entgegenzuwirken.

Damit sollen im Weiteren mögliche Strategien angesprochen werden, die mit Beginn der mündlichen Prüfung selbst relevant werden.
 
 
 

3.2 Strategien in mündlichen Prüfungen

 
3.2.1 Formen der Gesprächssteuerung


Hinsichtlich der Aktivitäten in der Prüfung soll zunächst aus der Perspektive der Prüfer/innen gefragt werden, anhand welcher interaktionellen Strategien sie ihre Kandidat/inn/en möglichst effektiv und produktiv zum Reden anhalten können. Entscheidend ist für diesen Zusammenhang die Beobachtung, dass der Gesamteindruck mündlicher Prüfungen vor dem Hintergrund der Dominanz des wissenschaftlichen Diskurses in erheblichem Maße von der "Gesprächsförmigkeit", d.h. der erfolgreichen "Inszenierung" eines (möglichst) gleichberechtigt erscheinenden wissenschaftlichen Gesprächs abhängt. Hier lassen sich einige grundsätzliche gesprächssteuernde Aspekte festhalten:

- Ein kalkulierbarer Prüfungseinstieg erleichtert vielen Studierenden nicht nur die Zeit der Vorbereitung, sondern trägt auch zur Entspannung der Prüfungssituation selbst bei. Haben Kandidat/inn/en während der ersten Minuten realisiert, dass die Stimme langsam aufhört zu zittern und sie entgegen ihrer Befürchtungen nicht "alles vergessen" haben, sind in vielen Fällen die wichtigsten Entscheidungen gefallen. Auch dann, wenn Prüfer/innen auf bestimmten Einstiegsritualen bestehen, kann es bereits unterstützend sein, Prüfungskandidat/inn/en diese Gewohnheiten mitzuteilen.

- Ein wichtiges Kennzeichen (möglichst) ausgewogener Gespräche ist in der inhaltlichen und gesprächsorganisatorischen Kohärenz der Gesprächsbeiträge beider Partner/innen zu sehen. Da die Kandidat/inn/en ohnehin auf die Aktivitäten ihrer Prüfer/innen reagieren (müssen), bedeutet das für die Prüfenden, dass sie möglichst an die vorhergehenden Ausführungen der Kandidat/inn/en anknüpfen, sie in zutreffenden Äußerungen unterstützen und wo möglich inhaltlich bestätigen sollten. Je fließender die Übergänge zwischen verschiedenen Aspekten des zu behandelnden Themas sind, desto ruhiger können Kandidat/inn/en dem Gespräch folgen.

- Im Sinne einer solchen Kohärenz kann es (in begrenztem Umfang) sinnvoll sein, wenn Prüfer/innen anhand ihres eigenen Wissens Übergänge zwischen unterschiedlichen thematischen Aspekten schaffen, Ausführungen der Kandidat/inn/en inhaltlich bestätigen oder die Erörterung zusätzlicher Aspekte anregen. Solche Ausführungen verstärken allerdings die ohnehin vorhandenen Asymmetrien mündlicher Prüfungen immer dann, wenn das Wissen der Prüfer/innen vorrangig der eigenen Imagepflege dient. Insoweit sollten Prüfer/innen ihr Wissen vorrangig unter dem Gesichtspunkt der Nützlichkeit für die Kandidat/inn/en zur Verfügung stellen.

- In diesem Sinne sind gerade Eigenaktivitäten von Kandidat/inn/enmöglichst zu unterstützen, solange sie nach Einschätzung der jeweils Prüfenden nicht völlig abwegig oder wissenschaftlich unhaltbar sind. Sollte es aus zeitlichen oder fachlichen Gründen entweder nicht sinnvoll oder nicht möglich sein, thematische Erweiterungen der Kandidat/inn/en zu unterstützen, so sollten Prüfer/innen dies explizit markieren. Durch solche Kommentare kann Kandidat/inn/en verdeutlicht werden, dass ihre Initiativen erwünscht und notwendig sind und dass es keine Form des versteckten Tadels darstellt, wenn die/der Prüfende hierauf im konkreten Fall nicht eingeht.

Erfolgreich können all diese Formen gezielter Gesprächsführung generell nur dann sein, wenn sie durch die komplementären Leistungen der Kandidat/inn/en ergänzt werden. Das gilt nicht nur für die Vorbereitung der Prüfung, sondern auch für das Prüfungsgespräch selbst. Dabei scheint es entgegen der Befürchtungen vieler Kandidat/inn/en nicht entscheidend zu sein, ob ihnen ihre Unsicherheit anzumerken ist oder nicht, sondern ob sie trotz ihrer (dann offensichtlichen) Belastungen auf die Initiativen ihrer Prüfer/innen reagieren und in welchem Umfang sie dies tun. Hierbei können folgende Überlegungen von Bedeutung sein:

- Wenn Kandidat/inn/en mit ihren Prüfer/inne/n mehr oder weniger genaue Absprachen über den Prüfungseinstieg getroffen haben, so ist es um so wichtiger, dass sie sich auf die gewählte Form des Einstiegs soweit möglich auch vorbereiten. Solche "freien Formen" des Einstiegs sind immer dann eher schädlich als nützlich, wenn Kandidat/inn/en bereits nach wenigen Sätzen nicht mehr weiter wissen. Hilfreich ist dieses Angebot zur Selbständigkeit allerdings dann, wenn die Betroffenen diese Möglichkeit der Gesprächssteuerung nutzen, um von Anfang an das Gespräch vorrangig auf die Aspekte zu lenken, über die sie auch im weiteren geprüft werden möchten.

- Ähnliche Beobachtungen lassen sich auch für den weiteren Gesprächsverlauf machen: je selbstverständlicher sich Kandidat/inn/en mit eigenen, die Initiativen der Prüfenden ergänzenden Aktivitäten in den Mittelpunkt stellen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Ranghöheren diese Aktivitäten aufgreifen. Insoweit erweisen sich ein (möglichst komplexes) Fachwissen und die Fähigkeit von Studierenden, eigenständig wissenschaftlich Relevantes ergänzen zu können, als entscheidende Voraussetzung, um Einfluss auf den Gesprächsverlauf nehmen zu können.

- Entgegen den Vermutungen vieler Studierenden sind Formen der Selbständigkeit in vielen Fällen wichtiger als die Fähigkeit, jede Frage beantworten zu können. Entscheidender als ein an Vollständigkeit orientiertes Detailwissen scheint die Fähigkeit zu sein, mittels möglichst umfangreicher Ausführungen das Gespräch als flüssig und im Ergebnis als kompetent erscheinen zu lassen.

Die Vermittlung solchen (und ähnlichen) institutionspragmatischen "Fachwissens" fällt in den Aufgabenbereich der Lehrenden.
 
 
 

3.2.2 Umgang mit unterschiedlichen Prüfungsstilen


Ausgehend von den Beobachtungen, dass sich in den letzten Jahren (zumindest in den geistes- und sozialwissenschaftlicher Fächern) immer stärker die Tendenz durchgesetzt hat, den Nachweis wissenschaftlicher Selbständigkeit in den Mittelpunkt zu rücken und diese vor allem durch gezielt angesteuerte Konfrontationen zu überprüfen, sollen im Folgenden einige Anregungen hinsichtlich eines reflektierten Umgangs mit diesen Formen der Überprüfung gegeben werden. Hierbei gilt es vor allem, die interaktionelle Komplexität solcher Formen der Überprüfung für die Kandidat/inn/en zu beachten. In diesem Sinn sollen zunächst erneut die Möglichkeiten von Prüfer/inne/n dargestellt werden.

- Konfrontative Formen der Überprüfung sollten möglichst nur zeitlich begrenzt genutzt werden und durch andere und weniger komplexe Aspekte abgelöst werden. Dabei ist zu beachten, dass es neben konfrontativen Formen der Auseinandersetzung auch andere Möglichkeiten gibt, die Selbständigkeit (und damit die Erkenntnis) von Kandidat/inn/en zu überprüfen: Kandidat/inn/en können dazu aufgefordert werden, Zusammenhänge zu erläutern oder Probleme zu beschreiben. Auch ein gemeinsames Zusammentragen wichtiger Aspekte ist zum Nachweis von Selbständigkeit geeignet.

- In jedem Fall sollte die gesamte Bandbreite möglicher Formen der Überprüfung genutzt werden. Entscheidend ist hierbei, dass sich Prüfende bei der Wahl des jeweiligen Prüfungsstils an den bereits gezeigten Fähigkeiten, Stärken oder Schwächen der Prüflinge orientieren und ihre Anforderungen dabei langsam steigern (oder beibehalten). Auch in den Fällen, in denen Kandidat/inn/en einen sicheren Eindruck vermitteln, läuft ein solches die Anforderungen vorsichtig steigerndes Vorgehen nicht so leicht Gefahr, dass die zusätzlichen (psychischen) Belastungen entscheidender sind als die erfragten Kompetenzen.

- In jedem Fall sollten Prüfende im Blick behalten, dass es auch in ihrem eigenen Interesse nicht zwingend notwendig ist, Konfrontationen solange fortzusetzen, bis die Grenzen der Fähigkeiten von Kandidat/inn/en erreicht worden sind. Für einen sicheren Eindruck in mündlichen Prüfungen ist es häufig nützlicher, Auseinandersetzungen nicht bis zu ihrem "äußersten Punkt" fortzusetzen.

- Diese Überlegungen treffen vor allem dann zu, wenn es zu einer ernsthaften (inhaltlichen) Auseinandersetzung zwischen Kandidat/inn/en und ihren Prüfer/inne/n kommt. So sollten Prüfer/innen auch solche Auseinandersetzungen möglichst nicht bis zu ihren denkbaren Grenzen ausdehnen. Prüfungskandidat/inn/en unter Bedingungen ihrer Überprüfung und Benotung in möglicherweise nur schwer überschauende Kontroversen zu verwickeln, verweist nicht auf gleichberechtigte Auseinandersetzungen oder "liberale" Umgangsformen.

- Der vorsichtige Umgang mit Konfrontationen empfiehlt sich auch in Situationen, in denen Kandidat/inn/en von sich aus gezielt auf eine Auseinandersetzung zusteuern. Wenn Prüfende sich sicher sind, dass sich ein Prüfling durch eine konkrete Auseinandersetzung nur verschlechtern kann, sollten sie - wenn möglich - nicht auf solche Diskussionen eingehen, um es gar nicht erst zu einer Krisensituation kommen zu lassen.

Diesen Vorschlägen entsprechen auf der Seite der Kandidat/inn/en ergänzende Überlegungen, die die Betreffenden selbst für ihren Umgang mit Formen der Konfrontation in mündlichen Prüfungen beachten sollten:

- Vor allem Prüfungskandidat/inn/en, die es gewohnt sind, sich mit Lehrenden auseinander zu setzen, sollte sich im Hinblick auf mündliche Prüfungen in besonderem Maße verdeutlicht werden, dass diese Art des Umgangs nicht ohne Gefahren ist. Ihnen sollte klar sein, dass vor allem ihre eigenen Belastungen mit dem Grad ihrer Konfrontationsbereitschaft ansteigen. Insoweit sollten sie in der Prüfung nicht in jedem Fall auf eine Auseinandersetzung hinsteuern.

- Auf der anderen Seite sollten sich diejenigen, die sich mit konfrontativen Formen des (wissenschaftlichen) Gesprächs eher schwer tun, vergegenwärtigen, dass "Streitgespräche" in Prüfungen kein eindeutiger Hinweis auf eigene Inkompetenz sind, sondern eine durchaus übliche Art des Prüfungsgesprächs.

- Allen Prüflingen gemeinsam bieten sich verschiedene Möglichkeiten, den Grad und das Ausmaß konfrontativer Passagen zumindest in Teilen zu beeinflussen, wenn Prüfende sie in einen Disput verwickeln: 1. Wenn sie sich nicht ganz sicher sind, wie sie einen Sachverhalt bewerten, besteht die Möglichkeit, von sich aus verschiedene Betrachtungsweisen anzusprechen und mögliche Schlussfolgerungen aufzuzeigen. Dabei ist es nicht immer zwingend notwendig, sich für eine der Positionen zu entscheiden. 2. Unsicherheiten können auch in konfrontativen Passagen (in begrenztem Umfang) explizit formuliert werden. Das ist vermutlich vor allem dann sinnvoll, wenn Kandidat/inn/en sich einer bestimmten Auseinandersetzung nicht gewachsen fühlen. Das gilt auch dann, wenn es sich nur um eine partielle Unsicherheit handelt. In Prüfungen ist "Angriff" nicht immer "die beste Verteidigung". 3. Prüfungen sind in der Regel für "Machtkämpfe" ein ungeeigneter Ort. "Alte Rechnungen" mit Lehrenden ausgerechnet unter den Bedingungen der eigenen abschließenden Bewertung begleichen zu wollen, schadet nicht vorrangig den Lehrenden. 4. Nicht alle Gegenargumente von Prüfenden sind zwangsläufig falsch. Aus diesem Grund kann es nicht nur aus strategischen Gründen sinnvoll und/oder angemessen sein, die eigenen Ansichten auch im Rahmen von Prüfungsgesprächen zu revidieren. Das gilt vor allem dann, wenn sich veränderte Ansichten tatsächlich aus dem Verlauf des Gesprächs ergeben. In solchen Situationen würde das Festhalten an alten Positionen eher zu Krisen führen als zum Nachweis der eigenen Kompetenz.

Damit sollen nun abschließend die kommunikativen Möglichkeiten in den Blick genommen werden, die verbleiben, wenn es innerhalb des Prüfungsgeschehens zu Krisen kommt.
 
 
 

3.2.2 Verhalten in Krisensituationen


Ausgehend von der Beobachtung, dass das Image von Prüfer/inne/n in mündlichen Prüfungen nicht unabhängig von den Leistungen ihrer Kandidat/inn/en zu sehen ist, bekommt der Aspekt der inneren Einstellung von Lehrenden zur Prüfungssituation ein um so größeres Gewicht. So sollten sich vor allem die Prüfer/innen in Situationen, die durch Wissensdefizite der Kandidat/inn/en gekennzeichnet sind, möglichst vergegenwärtigen, dass die Defizite der Kandidat/inn/en keinen Akt der Provokation darstellen. Das gilt auch dann, wenn das Image der Prüfenden durch die Passivität ihres Gegenübers gefährdet wird.

Abgesehen von solchen Kontrollmaßnahmen gibt es im Fall anhaltender Wissensdefizite von Kandidat/inn/en für die Prüfenden nur wenige Möglichkeiten, die Ausdehnung von Krisen zu begrenzen:

- Handelt es sich um überschaubare Defizite oder um Meinungsdifferenzen, bei denen die Prüfenden die Argumente der Kandidat/inn/en innerlich als irrelevant abwerten, so können sie relativ unauffällig von ihrem Vorrecht Gebrauch machen, den Fokus des Gesprächs zu verlagern.

- Handelt es sich nur um begrenzte und vereinzelte Defizite der Kandidat/inn/en, so können die Prüfenden diese Defizite den Fehler zur Entspannung der Situation "auf die eigene Kappe zu nehmen".

- Handelt es sich um anhaltende Wissensdefizite, sollten Prüfer/innen zunächst phasenweise versuchen, die Anforderungen zu senken und schlimmstenfalls auf die Möglichkeit des Themenwechsels zurückgreifen.

- Werden diese Probleme anhaltender Wissensdefizite themenübergreifend deutlich, können Prüfer/innen die Anforderungen an die jeweiligen Kandidat/inn/en nur insgesamt senken. In solchen Situationen sehen sie sich in der Regel veranlasst, in größerem Umfang eigenes Wissen in die Prüfung einfließen zu lassen. Letzteres ist jedoch mit großer Vorsicht zu tun, da all zu lange und zu häufige "Prüfer/innen-Vorträge" zwar dazu gut sein können, die eigenen wissenschaftlichen Standards zu verdeutlichen, Prüflinge in der Mehrzahl der Fälle jedoch vollends verstummen lassen.

- Eine prophylaktische Möglichkeit des Umgangs mit Wissensdefiziten besteht darin, die Kandidat/inn/en kurze Zeit vor der Prüfung knappe (höchstens einseitige) Exposés vorlegen zu lassen, aus denen stichpunktartig der Schwerpunkt ihrer Fragestellung und wichtige Ergebnisse ihrer Beschäftigung mit dem Thema hervorgehen. Solche Exposés können gerade in Krisensituationen einen Ansatzpunkt darstellen, um Kandidat/inn/en erneut zum Reden zu veranlassen.

Damit soll abschließend auf die (noch begrenzteren) Möglichkeiten von Kandidat/inn/en eingegangen werden, zur Entspannung von einmal entstandenen Krisensituationen beizutragen:

- Wenn Kandidat/inn/en bemerken, dass Prüfende nicht bereit sind, auf ihre Argumente einzugehen bzw. sie ernst zu nehmen, sollten sie sich überlegen, ob sie innerhalb der mündlichen Prüfung auf ihrem Standpunkt bestehen wollen. Derartigen Krisensituationen, die sich in der Regel um die Frage entwickeln, wer abschließend "Recht hat", können häufig nur durch das Einlenken einer/s der Beteiligten entspannt werden.

- Wenn Kandidat/inn/en merken, dass sie sich immer weniger auf das Prüfungsgeschehen konzentrieren können, so bleibt ihnen nichts anderes übrig, als die Gründe ihrer Verwirrung soweit wie nötig offen zu legen. Das gilt allerdings nicht nur für eigene Wissensdefizite, sondern auch für Störungen, die nicht von ihnen selbst verursacht werden. Darunter fallen nach meiner Erfahrung vor allem Störungen, die von "Nebentätigkeiten" der Prüfungsvorsitzenden ausgehen, und Störungen durch verwirrende Fragestellungen der Prüfenden selbst. Allerdings bietet es sich vor dem Hintergrund der ungleich verteilten Einflussmöglichkeiten für Kandidat/inn/en hier an, ihre Kritik auch dann als Bitte zu formulieren, wenn sie (berechtigterweise) verärgert sind.

- Wenn Kandidat/inn/en bemerken, dass sie aufgrund von akuten Panikzuständen nicht mehr sinnvoll auf das Prüfungsgeschehen reagieren können (etwa weil sie die Fragen überhaupt nicht mehr verstehen, nicht mehr formulieren können, was sie nicht verstehen oder gedanklich nur noch mit ihrer eigenen Inkompetenz beschäftigt sind), so müssen sie darum bitten, die Prüfung zu unterbrechen. Da sie in derartigen Situationen nur noch die Wahl zwischen zwei Übeln haben, stellt die "Flucht nach vorne" an solchen Stellen nicht nur strategisch die günstigere Möglichkeit dar, sondern ist in der Regel auch psychisch die entlastendere Variante, da sie sich hiermit auf ihre verbleibenden Aktivitäten und nicht auf ihre "Schicksalsergebenheit" (Passivität) beziehen.

An diese Empfehlungen anschließend sollen nun ausgehend von den Erfahrungen mit ihrer Nutzung im hochschulischen Fortbildungs- und Trainingsbereich in einem letzten Schritt die Grenzen der Anwendungsorientierung des vorgestellten Konzepts angesprochen werden.
 
 
 

4. Grenzen und Möglichkeiten der Umsetzung


Obgleich sich die qualitativ-empirische Orientierung als ein entscheidender Vorteil analysegestützter Empfehlungen gegenüber feldunspezifischen Vorschlägen erwiesen hat, sollen abschließend auch die Grenzbereiche angesprochen werden, die diese Konzepte mit klassischen Schulungskonzepten teilen. So haben die praktischen Erfahrungen mit Training von Studierenden und Lehrenden bezogen auf mündliche Prüfungen während der letzten Jahre einige grundsätzliche Aspekte verdeutlicht.

Bezogen auf beide Seiten ist bei der Nutzung der vorgestellten Empfehlungen in Trainings oder Fortbildungen deutlich die positionsspezifisch unterschiedliche Betroffenheit der Beteiligten und hiervon ausgehend deren unterschiedlich ausgeprägte Motivation sichtbar geworden, sich mit den Problembereichen ihres eigenen (Prüfungs-)Verhaltens zu befassen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Bereitschaft von Studierenden, sich mit ihrem eigenen Verhalten in hochschulischen Zusammenhängen auseinander zu setzen, in der Mehrzahl der Fälle kein grundsätzlich entscheidendes Problem darstellt. Die Grenzen einer gezielten, prüfungsvorbereitenden Schulung werden bezogen auf Studierende immer dort erreicht, wo im Rahmen der Trainings deutlich wird, dass weiterreichende psychische Probleme die spezifischen Schwierigkeiten der Prüfungssituation in überdurchschnittlichem Umfang verstärken. Dabei ist es zwar kein Zufall, dass gerade die Spezifik der Unsicherheitssituation vor Prüfungen mit so großer Häufigkeit substanzielle psychische Krisen nach sich zieht, diese Feststellung reicht jedoch nicht aus, um die hier beobachtbaren psychischen Krisen angemessen zu bearbeiten.

Bezogen auf die Prüfenden kommen die Grenzen des vorgestellten Ansatzes aus anderer Perspektive in den Blick. So zeigt die Erfahrung mit an der Hochschule Lehrenden im Fortbildungsbereich vor allem, dass die Probleme, die sich aus der weitgehenden Tabuisierung der eigenen Schwierigkeiten mit mündlichen Prüfungen ergeben, in der Regel nicht ausreichen, um sich freiwillig mit dem eigenen Verhalten in mündlichen Prüfungen zu konfrontieren. In diesem Zusammenhang lässt sich vermuten, dass die gegenwärtige hochschulische Situation einem selbstreflexiven Engagement im Bereich der Lehre entgegensteht. Insoweit lässt sich bezogen auf analysegestützte Veränderungsempfehlungen an Lehrende nicht nur im Zusammenhang mit mündlichen Prüfungen festhalten, dass die Grenzen des dargestellten Konzepts dort erreicht sind, wo es auf strukturell angelegte Motivationsdefizite stößt.

Damit verdeutlichen die vorhergehenden Überlegungen, dass kommunikations- und gesprächsanalytische Empfehlungen und Schulungen konkrete Veränderungen individuellen Kommunikationsverhaltens immer nur im Rahmen des bearbeiteten kommunikativen Felds unterstützen können. Sind die hier beobachtbaren Problembereiche jedoch die Folge von institutionell vorstrukturierten und damit produzierten Haltungen der kommunikativ Agierenden, so können die empirischen Befunde nur noch zum Ausgangspunkt für hochschulpolitische Veränderungen der gegebenen Situation genutzt werden.
 
 
 

Literatur

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Brünner, Gisela/Fiehler, Reinhard/Kindt, Walter (1999): Angewandte Diskursforschung, Bd. 1 und 2, Opladen

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- (1977): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt

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Linguistik online 5, 1/00

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