Die Soziolinguistik auf dem europäischen Kontinent hat sich nach dem 'Wirbel' der späten sechziger Jahre, als man auf amerikanischen Umwegen auf ganz neue Art mit dem eigenen linguistischen Erbe konfrontiert wurde, zu einer Disziplin entwickelt, an deren Eigenständigkeit nur wenige zweifeln. Eine eigene Begriffswelt und ein breiter Konsens über den einzuschlagenden Weg haben allmählich dafür gesorgt, daß soziolinguistische Themen um die Jahrtausendwende im europäischen soziolinguistischen Establishment mit fundierter Sachkenntis sowie mit großem Ernst analysiert und diskutiert werden. Wo manche die Jahrtausendwende als eine passende Gelegenheit sehen könnten, kontemplativ auf die Entwicklung der europäischen Soziolinguistik zurückzublicken, haben die Herausgeber der Sociolinguistica (Ulrich Ammon, Klaus Mattheier, Peter Nelde) im vierzehnten Band dieser Reihe genau das Umgekehrte getan: Die Autoren dieses Bandes wurden eingeladen, sich über die Zukunft der europäischen Soziolinguistik im neuen Jahrtausend zu äußern - ein vielversprechendes Thema, das den einzelnen Autoren genug Spielraum läßt, ohne daß sie sich andererseits gleich die Allüren einer von blauem Nebel umhüllten wahrsagenden Madame Blanche anmaßen müssten.
Schon jetzt kann gesagt werden, daß die Erwartungen größtenteils erfüllt werden. Nur ist die Vorausschau, auf die die Herausgeber in erster Linie abzielten, in vielen Beiträgen ein ziemlich braver, mehr oder weniger langer Appendix zu einer mehr oder weniger umfangreichen Bestandsaufnahme gegenwärtiger soziolinguistischer Themen geworden. Der Binsenwahrheit gemäß, daß die Zukunft in der Gegenwart wurzelt, täte es dem 14. Band der Sociolinguistica und den Verfassern der Beiträge jedoch unrecht, dies als eine Unzulänglichkeit zu betrachten. So stört es auch nicht, daß die im Durchschnitt 3 bis 4 Seiten langen 37 Beiträge als Spiegelbild des gegenwärtigen Forschungsstandes eine große Heterogenität aufweisen.
Dem Vorwort der Herausgeber kann man entnehmen, daß es eine bewußte - und nach der Lektüre kann man durchaus behaupten: gelungene - Entscheidung war, den eingeladenen Autoren dieses Mal kein inhaltlich vorgegebenes soziolinguistisches Thema aufzuerlegen, sondern ihren jeweiligen Vorstellungen von dieser Disziplin freien Lauf zu lassen und dadurch das Spektrum bewußt breit zu halten. Die Herausgeber haben versucht, den "bunten Strauß" von Beiträgen "auf drei große Vasen von Unterkapiteln" (S. VII) zu verteilen ('Gegenstand und Struktur der Soziolinguistik', 'Neue Themen, neue Räume' und 'Soziolinguistik Europas und der Europäer'), verweisen jedoch selbst auf den weitgefaßten Rahmen und die Schwierigkeiten einer schlüssigen Gliederung. Der Leser wird bald merken, daß es ihm aufgrund der Heterogenität der Beiträge leichter fallen wird, beim Lesen und Querlesen eine eigene Untergliederung aufgrund der eigenen Interessen und der eigenen (sozio)linguistischen Orientierung zu treffen, die eine Zuordnung der verschiedenen Autoren zu mehreren Kategorien zuläßt. So wird im folgenden aufgrund der Lektüre an erster Stelle auf Namen und Inhalt einer europäischen Soziolinguistik eingegangen. Nachdem einige soziolinguistische Themenbereiche in einem im Wandel begriffenen Europa dargestellt werden, folgt eine Reflektion über den Wunsch zur engagierten Zusammenarbeit.
Wenn auch die Existenzberechtigung und die Eigenständigkeit der Soziolinguistik als sprachwissenschaftliche Disziplin nicht oder kaum mehr in Frage gestellt wird, finden sich offenbar immer noch - möglicherweise auf verschiedene Forschungsinteressen und/oder Kultursphären zurückzuführende - unterschiedliche Ansichten über die Begriffsproblematik unserer Disziplin bzw. den sie charakterisierenden Inhalt. Das spricht jedenfalls aus den Beiträgen einiger Sociolinguistica-Autoren, deren Stellungnahmen hier in leichter Überspitzung skizziert werden.
Ein wenig provozierend und auf Labov verweisend bezeichnet Frans Gregersen "the very notion of sociolinguistics" als "an absurdity", da Sprache ja ein soziales Phänomen sei und es demzufolge keine Linguistik geben könne "which was not social" (S. 26). Gregersen liegt damit auf der gleichen Wellenlänge wie Louis-Jean Calvet, der behauptet, daß "dès lors que la langue est définie comme une entité sociale, la science qu[e] l'étudie ne peut être qu'une science sociale et il n'y a pas lieu de distinguer entre linguistique et sociolinguistique" (S. 78). Die daher von ihm anvisierte terminologische Wiedergabe der Soziolinguistik als '(socio)linguistique' scheint ihm im Laufe seines Beitrags allerdings selbst Schwierigkeiten zu bereiten und löst auch deshalb Fragen in bezug auf den Nutzeffekt eines solchen Unterfangens aus. Fragen gibt es auch im Zusammenhang mit der Problematisierung des Unterschieds zwischen "sociologie du langage et sociolinguistique", der von Calvet als "artefact" bezeichnet wird (S. 79). Calvet beruft sich auf Dell Hymes, der 'sociology of language' als einen der Termini aufführt, die in den sechziger Jahren an amerikanischen Universitäten für soziolinguistische Themenkurse verwendet wurden. Trotz des angeblich gleichlaufenden Inhalts existierten die Begriffe "en anglais comme en français" (und, sollte man daran zweifeln: auch in anderen Sprachen) weiter nebeneinander und, so Calvet weiter, "c'est cette coexistence de signifiants différents qui va mener à la création de signifiés différents" (ebd.).
Nun mag die Differenzierung zwischen 'sociology of language' einerseits und 'sociolinguistics' andererseits manchmal schwer aufrechtzuerhalten (gewesen) sein, ganz aus der Luft gegriffen ist sie nicht. Man kann auch ernsthaft daran zweifeln, ob der Ausgangspunkt von Calvet, daß man in gewissem Sinne einen Unterschied erfunden bzw. einfach einen Inhalt für einen gegebenen Namen kreiert habe, der richtige ist. Vielleicht sind die im französischen Raum schon immer begegnete engere Verknüpfung der Soziologie und Philosophie mit anderen Wissenschaftsdomänen und die frühe Einführung des Syntagmas 'sociologie du langage' von Marcel Cohen in die französische Sprachwissenschaft Gründe dafür, daß die möglicherweise Verwirrung stiftende Differenzierung zwischen Soziolinguistik und Sprachsoziologie hier um einiges unerträglicher zu sein scheint. Allgemeingültigkeit muß man der französischen Sicht- und Arbeitsweise - schon aufgrund des vernehmlichen Rufs nach Soziologie in der mit soziologischen Themen beschäftigten Linguistik und Linguistik in der mit Sprache befaßten Soziologie - bis heute jedoch absprechen. Dies bedeutet allerdings keineswegs, daß man aus heutiger Sicht auf eine Debatte über Sinn oder Unsinn terminologischer Differenzierung verzichten sollte. Eine solche Debatte dürfte dann wohl - statt sie mit konkreten zukunftsbezogenen soziolinguistischen Themen zu verbinden - auf eine ausgesprochene, der Soziolinguistik zur Zeit fehlende und von einer höheren Selbstrelativierung gekennzeichnete metawissenschaftliche Ebene verlagert werden, auf der eine verspielte semasiologische Terminologie bzw. das Generieren neuer Wörter und Inhalte der jeweiligen zeitgenössischen terminologischen und für die Weiterentwicklung einer Disziplin notwendigen (Quasi-)Deutlichkeit nicht schaden kann. Vielleicht müßte, worauf Georg Kremnitz anspielt, zu solchen Problemfeldern ein Diskussionsforum geschaffen werden, das die Möglichkeit böte, sich an der Grenze des Wissenschaftsbereichs befindliche Positionen, wie die in dem wahrscheinlich bewußt polemischen, jedoch an vielen Stellen höchst relevanten und anregenden Beitrag von Calvet, auszubalancieren und wertvolle Denkanstöße wie die von Hans Goebl, vorurteilslos zu diskutieren.
In seinem Beitrag hält Goebl u.a. ein (zuweilen etwas unausgewogenes) Plädoyer für "methodische Trennschärfe". Er betrachtet "Sozio-Linguistik als Teil einer übergeordneten Variations-Linguistik, die u.a. in Geo-, Historio- und Sozio-Linguistik drei wesentliche Ausprägungen hat" (S. 23). Mit Kants Kritik der reinen Vernunft im Hinterkopf sollte Geo die Bühne des 'Natur-Raums', Historio die des 'Zeit-Raums' und Sozio die des 'Sozial-Raums' werden. Unklar bleibt in Goebls Entwurf jedoch, was genau unter 'Variation' verstanden werden soll (nur sprachlicher Wandel und Vielfalt?) und inwiefern sich die Geo-, Historio- und Sozio-Ausprägungen kategorisch deutlich voneinander unterscheiden lassen, da z.B. 'Sozio' immer auch ein bißchen 'Geo' und 'Historio' in sich trägt. Die 'methodische Trennung', so wie sie von Goebl dargestellt wird, ist ohne eine weitere, abgestufte Verfeinerung zu scharf geraten, zumal da sich die Soziolinguistik seit Mitte der achtziger Jahre als eigenständige Disziplin erheblich weiterentwickelt hat und demzufolge festen Konturen offensichtlich widerstrebt - so entnimmt es Kremnitz dem Vorwort der Herausgeber (Ammon, Dittmar, Mattheier) der in Vorbereitung befindlichen zweiten Auflage des HSK-Bandes Soziolinguistik (S. 120). Vielleicht verdient daher die wirklichkeitsnähere Position, die Kremnitz einnimmt, besondere Berücksichtigung. Nicht ganz unkritisch betrachtet er die Soziolinguistik als eine allmähliche Entwicklung von einer Interdisziplin zu einer hier und dort gewisse interdisziplinäre, methodische und andere Lücken aufweisenden eigenständigen Disziplin, deren genauer Inhalt manchmal schwer zu fassen ist. Somit bleibt die Soziolinguistik, wie es auch im Beitrag von Peter Trudgill zum Ausdruck kommt, ein Etikett für recht verschiedene Themen, eine Disziplin, deren Einheit, so Peter Auer, "heute weniger denn je gegeben zu sein" scheint (S. 1).
Eine mögliche Kompromißlösung könnte eine geographische Einengung der Soziolinguistik sein, so z.B. auf die europäische, nordamerikanische, asiatische usw. Soziolinguistik. Frans Gregersen ist aber der Meinung, "that a specific European empirical sociolinguistics has never been in existence" (S. 26). Dieser ziemlich radikalen Behauptung wird von Calvet widersprochen, für den "la sociolinguistique naissante a trouvé en Europe la conjonction de différents facteurs qui manquaient, ou manquaient en partie, aux Américains" (S. 79). Als epigonenhafte Folge der amerikanischen Soziolinguistik kann man die europäische Soziolinguistik aus heutiger Perspektive, sicherlich aber auch in ihrer historischen Entwicklung schwerlich bezeichnen. Infolge der unterschiedlichen wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, kulturellen und politischen Traditionen gab und gibt die Konstellation Europas Anlaß zu einem höheren Grad an Diversität, die Emili Boix-Fuster aus regional-katalanischer Perspektive veranlaßt, Europa mit der notwendigen Vorsicht in ein "Europe de premier rang (la France, l'Allemangne, la Grande-Bretagne, etc.)" und "les pays périphériques [&] (l'Alsace-Lorraine, le Pays Basque, Galles, l'Écosse &)" zu unterteilen (S. ).
Obwohl sich die Herausgeber der Sociolinguistica über den Wert des von ihnen im Untertitel 'Internationales Jahrbuch für Europäische Soziolinguistik' hantierten Nenners 'europäische Soziolinguistik' nicht aussprechen, ist anzunehmen, daß sie damit genau die von Boix-Fuster aufgeführte Vielfalt zu überwölben versuchen, und dabei - wie Gaetano Berruto - davon ausgegangen sind bzw. ausgehen, daß "il semble difficile d'attribuer à 'sociolinguistique européenne' une valeur qui outrepasserait la simple dénotation géographique (c'est-à-dire, la sociolinguistique telle qu'elle est pratiquée dans l'ensemble des pays de l'ancien continent)" (S. 66). Das Zusammenbringen einer geographischen Vielfalt unter eine begriffliche Einheit spricht aus dem programmatischen Vorwort des ersten Sociolinguistica-Bandes 1987, in dem es heißt, daß Sociolinguistica dazu beitragen soll, "die vielfältige europäische Forschung in der Soziolinguistik zu koordinieren" und "ein Forum für die Herausbildung einer gesamteuropäischen Soziolinguistik" (S. VII) zu bilden. Bisher haben die 13 Themenhefte erheblich dazu beitragen, die geographische Einheit um thematische Einheiten zu ergänzen und die innereuropäische und transatlantische "influences réciproques" (S. 126), von der Normand Labrie mit Begeisterung schreibt, zu dokumentieren und anzuregen.
Genau diese manigfaltigen "influences réciproques" verdienten es, weiter untersucht zu werden. Kremnitz mag dann schon traditionell literaturwissenschaftliche Themen wie 'Zensur' und 'Übersetzung' als möglicherweise relevante Themen einer zukünftigen Soziolinguistik aufführen, Rezeption gehört zweifelsohne mit dazu. Eine Kartierung der unterschiedlichen Geschwindigkeit, mit der soziolinguistische Methoden, Theorien und Themen europa- bzw. weltweit rezipiert werden, wäre eine anspruchsvolle Aufgabe und könnte z.B. mit dazu beitragen, den Unterschied zwischen der amerikanischen (eher rezeptionsfeindlichen?) und europäischen (eher rezeptionsfreudigen?) Soziolinguistik weiter zu legitimieren und zu präzisieren.
In den letzten Jahrzehnten ist Europa in den unterschiedlichsten Domänen einem raschen Wandel unterworfen, der auch Konsequenzen für die Weiterentwicklung der europäischen Soziolinguistik hat. Der gesamteuropäische gesellschaftliche Wandel wird von Jarmo Lainio übersichtlich dargestellt und anhand der besonderen schwedischen Situation illustriert. In Bezug auf die Situation in Katalonien macht Francesc Vallverdú deutlich, daß das "Europe en bouleversement" und die damit einhergehenden "changements socioculturels" (S. 211) nicht nur ein Verschmelzen von älteren und neueren Forschungsmethoden innerhalb der Soziolinguistik, sondern auch innovative Forschungsansätze erforderlich machen, wenn man mit den raschen Entwicklungen Schritt halten und neuen Herausforderungen in bisher relativ unerforschten Gebieten die Stirn bieten will.
Ein geographisches Gebiet, das vor ca. 10 Jahren soziolinguistisch noch relativ unerforscht war, ist Osteuropa. Obwohl der Ost-West-Konflikt in seiner alten Form heute verschwunden ist, sollte man sich mit Harald Haarmann fragen, ob er keine neue, eher kulturell-religiös-ethnische als politisch-wirtschaftliche Gestalt angenommen hat. Dies, sowie die potentiellen Konfliktsituationen, die inventarisiert und typologisiert werden sollten, gilt es laut Haarmann, der sich hier offensichtlich im Fahrwasser der Kontakt- und Konfliktlinguistik bewegt, zu untersuchen. Das von ihm anvisierte besondere Augenmerk für den pannonischen Raum spricht auch aus dem Beitrag von Gabriella Schubert, die Wert legt auf die Erforschung traditioneller soziolinguistischer Themen wie Mehrsprachigkeit, Muttersprache, Enkulturation und auf den Zusammenhang zwischen Sprache und ethnischer Identität. Für eine Berücksichtigung von sprachpolitischen und sprachplanerischen Themen plädieren Gerhard Neweklowsky im Zusammenhang mit dem Serbokroatischen und Ina Druviete im Zusammenhang mit zweisprachigem Unterricht in Lettland. Augenscheinlich versuchen Neweklowsky und Druviete an erst in den letzten Jahren - vor allem in der anglo-amerikanischen Soziolinguistik - aufgetauchten sprachpolitischen und sprachplanerischen Überlegungen anzuknüpfen. Daß solche Überlegungen aber auch außerhalb von Osteuropa und ganz spezifisch in der Europäischen Union dringlich Berücksichtigung verdienen, stellt Robert Phillipson in überzeugender Weise dar. Aber vielleicht bedarf es, bevor auf der gesamteuropäischen Ebene von einer effektiven und effizienten Sprachpolitik die Rede sein kann, zuerst einer Bewußtwerdung bzw. Behebung der Diskrepanzen, die die sprachpolitische und sprachplanerische Terminologie in verschiedenen Sprachen aufweisen (vgl. u.a. Nelde, im Druck).
Für eine Bewußtwerdung terminologischer Diskrepanzen aufgrund verschiedener sozialer und politischer Traditionen plädiert Stephen Barbour am Beispiel der Begriffe 'dialect', 'Dialekt', 'dialecte' (S. 8). Ein größeres Interesse für diesen Themenbereich (vgl. auch den Beitrag von Berruto) könnte interkulturelle soziolinguistische Mißverständnisse vermeiden. Es wäre deshalb ein besonders anspruchsvolles und sinnvolles Vorhaben, einen Begriffskatalog auszuarbeiten, der genau diese interkulturellen und zeitgebundenen sowie politisch und sozial bedingten Diskrepanzen dokumentieren würde. Darin könnten bereits die Neubestimmung des Varietätenbegriffs, worauf Norbert Dittmar in seinem Beitrag einen großen Wert legt, sowie die laut Peter Auer im europäischen Kontext notwendige Einführung von 'Heteroglossie' als Ersatz für 'Variation' (S. 2), aufgenommen werden.
Die Begriffs- und Terminologiediskussion innerhalb der Linguistik, die nebst zahlreichen Irrungen und Wirrungen noch keine wünschenswerte Klarheit geschaffen hat, ist im Vergleich zum kulturell bunt gefärbten Alltagsleben, wo interethnische Konflikte oft durch terminologische Unterschiede oder Einnebelungen entstehen können, harmlos. Vor allem in Osteuropa, wo nach der Wende ein polystilistischer Dialogismus an Stelle eines monostilistischen Monolinguismus trat (vgl. den Beitrag von Natalia Troschina) scheinen manche Wortfelder im interkulturellen Vergleich eher dem Status eines Minenfeldes nahezukommen. Die Rolle, die eine metasprachliche Vorgehensweise hier spielen könnte sowie der mögliche Beitrag, den Linguisten zu einer Entschärfung oder Vermeidung terminologisch angelegter Konflikte leisten könnten, werden von Miklós Kontra beleuchtet. Daß auch die Kulturemtheorie, so wie sie von Els Oksaar eingeführt wird und die Sprachkategorisierungsforschung, die Brigitte Schlieben-Lange ( ) und Johannes Kabatek in ihrem gemeinsamen Beitrag gekonnt beschreiben, im gleichen Sinne dazu beitragen können, ist offenkundig.
Ihrer inhärenten Vielfalt wegen erweist sich gerade die Sprachkategorisierungsforschung als ein für die europäische Soziolinguistik zukunftsträchtiger Bereich. Dadurch, daß sie sich nicht nur auf eine gegenwartsgebundene, sondern auch auf eine historische Ebene bezieht, kann sie ohne weiteres bezeugen, daß diachronische Phänomene, die der Soziolinguistik früher eher fremd waren, heute stets mehr an Bedeutung gewinnen. Das wird auch im Beitrag von Ludwig Eichinger deutlich, der sprachliche Varietäten im deutschen Raum aus historischer Perspektive beleuchtet. Zudem plädiert Kremnitz für eine Historisierung der Soziolinguistik und nähert sich Rosita Rindler-Schjerve aus einer historischen und an die cultural studies sowie die Theorien von Gramsci erinnernden Perspektive der Diglossie als diskursives Herrschaftskonstrukt an. Eine Methode, die in dem von Rindler-Schjerve geschilderten Projekt verwendet wird und die - wie sich in den Beiträgen von Dittmar und Lainio zeigt - auch in synchronen Untersuchungen zunehmend als Methode an Bedeutung gewinnt, ist die der Diskurs- und Korpusanalyse.
Trotz des verstärkten Hangs zum Diachronen bildet die synchrone Forschung in all ihrer Vielseitigkeit noch stets den Löwenanteil der zeitgenössischen Soziolinguistik. Sprachpolitik an mehrsprachigen Schulen (Sjaak Kroon / Ton Vallen), der Status und die Entwicklung von Lingua Franca und Ethnolekten (Michael Clyne), Spracherhalt und Sprachwechsel (Li Wei), 'language processing mechanisms' (Sprachverarbeitungsmechanismen, Kees De Bot), Soziophonetik und Soziophonologie (Sylvia Moosmüller / Wolfgang Dressler), Diaphasie (Françoise Gadet), Sprachdiversität und die Verwendung nicht offizieller Sprachen in mehrsprachigen Ländern (Annick De Houwer), Mehrsprachigkeit (Norman Jørgensen / Tore Kristiansen), die Herausbildung interpretativer statt rein quantitativer Methoden (Jirí Nekvapil), Stadtsprachen (Dittmar) und Migration (Haarmann) sind nur einige Themen, die hier an der Tagesordnung sind und die auch in Zukunft die soziolinguistische Landschaft Europas bereichern werden.
Verschiedenen Sociolinguistica-Beiträgen kann man entnehmen, daß die künftige Vitalität der europäischen Soziolinguistik, wenn sie sich vor einem Abflauen bewahren will, in erheblichem Maße vom Willen der Forscher zur Zusammenarbeit und ihrem persönlichen Engagement abhängen wird. Labrie plädiert dazu für eine engere transatlantische Zusammenarbeit und die Schaffung geographisch heterogen zusammengesetzter soziolinguistischer Arbeitsgruppen. Boix-Fuster verspricht sich viel von europäischen Forschungszentren, ohne dabei jedoch zu berücksichtigen, daß es solche auf der Basis von informellen Kontakten zwischen Forschern, allerdings in unzureichendem Maße bereits gibt. Eine verstärkte Zusammenarbeit sowie die Gründung und die Förderung mehrerer europäischer soziolinguistischer Forschungsstellen könnte dazu beitragen, den von Jack Chambers in seinem Beitrag angeklagten soziolinguistischen Provinzialismus bzw. den von Calvet so bezeichneten "statut de 'province' de la linguistique" (S. 81) zu verlassen. Beide zielen auf eine breitere Orientierung der Soziolinguistik hin, die darin bestehen sollte, über die geographischen Grenzen sowie über die Grenzen der Disziplin hinauszuschauen und so "global conclusions" (S. 12) (z.B. im Zusammenhang mit der Beziehung zwischen Standardsprache und Dialekt) zu erzielen bzw. "tous les faits de langue et de langage" (S. 81) abzudecken. Fraglich ist jedoch zum einen, ob man wirklich dazu übergehen sollte, alle Fragestellungen der Sprachwissenschaft unter dem Nenner eines "approche de type écolinguistique" (S. 82), der schon heute bis an die Grenze des Erträglichen beansprucht wird, zu erfassen. Und zum anderen ist es traurig und bedenklich, daß es den Soziolinguisten bisher wenig oder noch gar nicht gelungen ist, die Früchte ihrer Disziplin zusammenzubringen und ihr so eine größere Kohärenz - für die Lainio in seinem Beitrag eintritt - zu geben. Offenbar angelt man noch allzu gern am liebsten im eigenen Teich ohne Rücksicht auf andere zu nehmen. Dies zumindest könnte eine (Teil-)Erklärung für den Rückstand einer soziolinguistischen Theorie- und Methodologiebildung bieten, auf die u.a. Geir Wiggen hinweist. Es könnte auch ein Hinweis dafür sein, daß man die hochgerühmte Interdisziplinarität der Soziolinguistik nicht ganz wörtlich nehmen sollte, oder, wie Goebl es ausdrückt (S. 24): "Für das 21. Jahrhundert hätte ich - das alles pointiert auf den Nerv bringend - einen 'interdisziplinären' Wunsch, daß die mit Soziolinguistik Befaßten sich weniger als bisher dem "Zauber der Worte" und etwas mehr jenem der "Zahlen" hingeben bzw. ihre jeweilige "Hingabe" deutlicher als bisher multipel gestalten mögen."
Vielleicht sollten Soziolinguisten des öfteren einmal ihren Schreibtisch verlassen und sich durch konkrete und methodologisch solide Feldforschung mit der europäischen Vielfalt beschäftigen und dabei den relevanten Kontakt mit anderen Wissenschaften und Wissenschaftlern nicht scheuen. Auffallend ist in diesem Sinne eine gewisse Sehnsucht nach der Pionierzeit der sechziger Jahre. Kremnitz plädiert für ein größeres Engagement des Forschers, Wiggen spricht sich für eine "moral scholarship" (S. 60ff.) aus, die sich 'kommerziellen Diktaten' widersetzt, Tove Skutnabb-Kangas möchte die Soziolinguisten als "activists in addition to being archivists" (S. 53) sehen, Ernst Håkon Jahr betont die Notwendigkeit zur Rettung bedrohter Sprachen und Haarmann wünscht sich einen kooperativen Teamgeist, der zur Stabilisierung einer multikulturellen europäischen Identität beitragen soll.
Nun ist der 'Barrikadenschwung', der aus den aufgeführten Aufforderungen spricht, zwar äußerst sympathisch; gerade die sichtbare regressive Haltung illustriert aber auch eine gewisse Blutarmut der gegenwärtigen Soziolinguistik, der eher mit wohlfundierten Überlegungen zur Neutralität und Objektivität des Forschers (vgl. Vallverdú) bzw. der Rolle vom Forscher als Beobachter und Mitspieler (vgl. Goebl) als mit heimwehvollen Rückblicken geholfen wäre. Zur 'moral scholarship' gehört schließlich auch eine die Soziolinguistik als Wissenschaft tragende und die zukünftige Nachwuchsgeneration möglichst einbeziehende Etablierung einer Forschungshaltung, zu der neben unpopulären ethischen Bedenken auch Bedenken methodologischer und theoretischer Art gehören. Es wäre deshalb ein wahrer Segen für die in den Einzelbeiträgen nur unzureichend zu Wort kommende Nachwuchsgeneration, wenn das älter werdende Establishment aufgrund seiner reichen Erfahrung nachdrücklicher dazu beitragen würde, der Soziolinguistik als Wissenschaft den Rang zu verleihen, der ihr aufgrund ihrer bedeutenden Leistungen längst zukommt.
Abschließend kann man ohne weiteres festhalten, daß die Herausgeberschaft der Sociolinguistica 14 ihr Ziel, eine Übersicht über Meinungen und Forschungseinstellungen einer zukünftigen, offensichtlich zur Zeit krafstrotzenden Soziolinguistik bieten zu wollen, erfolgreich erreicht hat. Die einzelnen Beiträge sind durchweg flott und anregend geschrieben. Einige wollen offensichtlich nach Inhalt oder Form den Leser provozieren bzw. irritieren (zu befürchten ist, daß so mancher Leser über das - je nach Gesichtspunkt - sprachliche Kunstwerk bzw. Monstrum vom skandinavischen Tandem Jørgensen / Kristiansen stolpern werden). Aber das ist das besondere Kennzeichen einer Vielfalt, die die gesamte europäische Soziolinguistik prägt, die in den Augen des Rezensenten jedoch noch um einiges kreativer und zuweilen auch selbstrelativierender sein dürfte. Als Beispiel dürften durchaus die Herausgeber des Jahrbuches gelten, die mit ihrer thematisch fesselnden und konsequent in drei Sprachen (Deutsch, Englisch, Französisch) präsentierten Reihe, die sich allein schon aufgrund der inzwischen unentbehrlich gewordenen Länderbiographie und der zahlreichen - heute bereits teilweise vergiffenen - Themenbände um eine europäische Soziolinguistik verdient gemacht haben, eher ihre vertikale als horizontale Entwicklung zu beschleunigen wissen und sie so konzipieren, daß sie auf Weltebene die Rolle der immer mehr in der kognitiven Flutwelle versinkenden nordamerikanischen Soziolinguistik in mancher Hinsicht übernehmen kann - allerdings in weitgehender Beschränkung auf europäische Dimensionen.
Ammon, Ulrich/Mattheier, Klaus/Nelde, Peter (1987): "Vorwort". In: Idd. (eds.) (1987): Brennpunkte der Soziolinguistik. (= Sociolinguistica, Band 1.) Tübingen: VII-VIII
Nelde, Peter (im Druck): Sprache im Spannungsfeld zwischen nationalem Selbstverstandnis und wirtschaftlicher Integration - Präliminarien zu einer europäischen Sprachenpolitik. Wien.
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