Doppelnamen sind in, und das nicht ohne Grund. Im Falle dieses Hefts von Linguistik online soll die Verbindung von "Sprachkontaktforschung" und "Areallinguistik" die Vielfalt eines klassischen Gegenstands der Sprachwissenschaft andeuten: des Kontakts zwischen Sprachen und seiner Folgen. Die sechs Artikel (verteilt auf drei Rubriken) und zwei Rezensionen konzentrieren sich, was die betroffenen Einzelsprachen angeht, auf das Deutsche und seine Nachbarsprachen; was die übereinzelsprachlichen Auswirkungen des Kontakts betrifft, so beziehen sie sich in erster Linie auf das Sprachenareal Europa.
In seinem Beitrag in der Rubrik Programmatisches präsentiert P. Sture Ureland den Gedanken einer 'Eurolinguistik', indem er die nationalphilologisch-isolierende Perspektive der Sprachwissenschaft, wie sie an den Universitäten gewöhnlich unterrichtet wird, verwirft und stattdessen dafür plädiert, die Linguistik in eine neue Disziplin 'Europäistik' zu integrieren. Erst in deren Rahmen könnten neben den Verschiedenheiten auch die Gemeinsamkeiten der europäischen Sprachen angemessen zur Geltung gebracht werden, die nicht zuletzt dank des Sprachkontakts und der Mehrsprachigkeit zustande gekommen seien.
Im ersten der drei Artikel in der Schwerpunktrubrik Deutsch und seine Nachbarsprachen geht Luc de Grauwe den vielen skandinavischen Entlehnungen, Lehnübersetzungen, Zitaten und Anspielungen in den heutigen westgermanischen Sprachen nach, die beweisen, wie vergleichsweise intensiv der skandinavisch-westgermanische Sprachkontakt immer noch ist, und die übrigens auch zeigen, dass das Englische heute keineswegs nur allgegenwärtiger Spender, sondern durchaus auch Empfänger lexikalischer Neuerungen ist. Anschließend zeichnet Ryszard Lipczuk die Geschichte und Systematik deutscher Entlehnungen im Polnischen nach; in ihrer enormen Bandbreite sind sie symptomatisch für die oft unterschätzte Intensität der deutsch-polnischen Beziehungen seit dem frühen Mittelalter, und es kann dann auch kaum überraschen, dass sie, wie Lipczuk ebenfalls zeigt, ab dem 19. Jahrhundert Zielscheibe zunehmender puristischer Aktivitäten waren. Schließlich untersucht Torsten Leuschner Gleichgültigkeitsausdrücke im Deutschen, Schwedischen, Dänischen und Isländischen unter typologischen Gesichtspunkten und rekonstruiert die (z.T. selbständigen) Entwicklungen, die zur Ausbildung des jeweiligen einzelsprachigen Inventars solcher Ausdrücke im Rahmen des hochdeutsch-kontinentalskandinavischen Sprachkontakts während der frühen Neuzeit geführt haben. Der Vergleich mit dem Isländischen, das keinerlei Spuren solcher Entwicklungen aufweist, bringt in die Erforschung lexikalisch-phraseologischer Entlehnungen zugleich auch die areale Komponente ein, die in letzter Zeit wieder verstärkt das Interesse der Sprachkontaktforschung auf sich gezogen hat.
Eben diese areale Komponente wird in der Rubrik Kontrovers diskutiert zum Gegenstand metatheoretischer und traditionskritischer Überlegungen bei Jeroen Van Pottelberge, der zunächst die ursprüngliche Bedeutung des Sprachbundbegriffs bei Trubetzkoy und Jakobson samt seiner zeitgenössischen ideologischen Hintergründe rekonstruiert und anschließend eine tiefschürfende Kritik gegenwärtiger arealtypologischer Forschungsansätze liefert, die sich auf ihn berufen; auch die zu Beginn des Heftes präsentierte Eurolinguistik kommt dabei zur Sprache. Der nachfolgende Beitrag von Marek Lazinski ist eine Replik auf einen in Heft 4 (3/99) von Linguistik online erschienenen Artikel von H. Weydt und A. Kazmierczak über die Entstehung eines analytischen Perfekts mit 'haben' im Polnischen: Aufgrund einer neuen Analyse der von Weydt / Kazmierczak herangezogenen Beispielsätze zeigt Lazinski, dass die betreffende Konstruktion bei weitem noch nicht den Grammatikalisierungsgrad erreicht hat, den Weydt / Kazmierczak ihr zusprachen. Zwar scheint die Entwicklung eines solchen Perfekts in der allgemeinen Tendenz der indogermanischen Sprachen zur Ausbildung analytischer Konstruktionen zu liegen, bemerkenswert ist aber doch, dass gerade die Existenz eines Perfekts mit 'haben' im Polnischen Oberschlesiens (dem sog. 'Wasserpolnisch') als eines der klassischen Beispiele für strukturelle Interferenz durch Sprachkontakt (hier: mit dem Deutschen) gilt (Weinreich 1953: 41).
Behandeln die Aufsätze schwerpunktmäßig die sprachsystematische Perspektive, so ist die Soziolinguistik in der Rubrik Rezensionen durch eine Besprechung von Jeroen Darquennes vertreten, die dem 14. Band des Jahrbuchs Sociolinguistica über Die Zukunft der europäischen Soziolinguistik gewidmet ist; in einer weiteren Rezension stellt Torsten Leuschner Sarah G. Thomasons neues Übersichtswerk Language Contact: an Introduction vor. Eine Beschreibung des DFG-Projekts "Zur Funktion der mündlichen L2-Produktion und zu den damit verbundenen kognitiven Prozessen für den Erwerb der fremdsprachlichen Sprechfertigkeit" und eine Rubrik mit Kurzbiographien der Autoren runden das Heft ab.
Weinreich, Uriel (1953): Languages in Contact: Findings and Problems. Den Haag / Paris.